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Letzte Aktualisierung: 26.04.2024

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Tina Lanik inszeniert „König Lear“ bei den Bad Hersfelder Festspielen

Ein faszinierenden Polit-Thriller und emotionales Familiendrama

von Adolf Albus

(17.05.2023) Die Welt ist aus den Fugen! Zwei Familien, albtraumhaft miteinander verstrickt, ringen um den Erhalt ihrer Macht. Unter ihnen einer der finstersten Bösewichter aus Shakespeares Feder, der es problemlos mit Richard III. aufnehmen könnte:

Edmund kennt keine Skrupel und geht über Leichen, um das Erbe seines Vaters Gloucester an sich zu reißen. Die beiden ältesten Töchter König Lears stehen ihm in nichts nach: Goneril und Regan tun alles, ihrem Vater das Herz aus dem Leib zu reißen. Lears jüngste Tochter Cordelia und Gloucesters erster Sohn Edgar hingegen, beide vom Glauben beseelt, dass Gerechtigkeit, Güte und Vergebung am Ende die Geschichte zum Guten wenden, scheinen wie zwei funkelnde Irrlichter in dieser düsteren Welt, zu der Shakespeare durch eine britische Sage aus dem 8. Jahrhundert vor Christus inspiriert wurde.

Regisseurin Tina Lanik besetzt König Lear, das Paradebeispiel eines Patriarchen, der zwar seine Verantwortung, aber auf gar keinen Fall seine Macht abgeben will, bei den Bad Hersfelder Festspielen 2023 mit Charlotte Schwab. Der Blick einer großen Schauspielerin auf einen der schillerndsten Regenten der Weltliteratur verspricht neue, ungewohnte Sichtweisen auf dieses mitreißende, bewegende Plädoyer Shakespeares für den Humanismus.

Festspiel-Intendant Joern Hinkel: „Tina Lanik inszeniert „König Lear“ als eine Mischung aus faszinierendem Polit-Thriller und hoch emotionalem Familiendrama und macht deutlich, wie aktuell dieses Stück von Shakespeare über 400 Jahre nach seiner Entstehung heute noch ist. Sie bringt eine Version auf die Bühne, die zeigt: heute würde Shakespeare wahrscheinlich für BBC oder HBO schreiben! Ein Stoff, der durch seine unvorhersehbaren, manchmal gnadenlosen Wendungen, seine bis in die kleinsten Nebenfiguren schillernde Charaktere begeistert, gerade auch die jüngere Generation. Es geht um den Missbrauch und das Loslassen von Macht, um Familienintrigen und die Zerstörung unserer Umwelt. Keine Angst vor Shakespeare, also!“

Besonders anschaulich spiegeln sich die zwei unterschiedlichen Welten von „König Lear“ in den Bühnenräumen und Kostümen von Stefan Hageneier wider: Im ersten Teil der Geschichte befinden wir uns in der Welt des Hofstaats, der Politik und der Finanzen. Im Zentrum stehen goldene Metall-Portale mit Glaswänden und einer überdimensionalen Drehtür, die sich im luxuriösen Wolkenkratzer einer mächtigen Finanzmetropole befinden könnte. In eine große Drehbühne auf der Mitte der Bühne sind leuchtenden LED-Streifen kreisförmig versenkt und wecken Assoziationen zu einer modernen, neonstrahlenden Architektur. Die Menschen tragen ihre maßgeschneiderten Anzüge wie Panzer in einer Gesellschaft, die sich Ausbrüche von Emotionen in der Öffentlichkeit nicht leisten kann.

Shakespeares Narren zersplittert Tina Lanik in drei Frauen – drei ständige Begleiterinnen des durch eine Schauspielerin verkörperten Königs, drei Stimmen seines Gewissens, drei Stimmen des Zweifelns, des Ansporns, des Zoten-Reißens und verborgener Gefühle.

In der zweiten Welt, der Welt der Heide, die die Figuren in einer schonungslosen, wüsten und stürmischen Natur auf sich selbst zurückwirft, werden aus den drei Närrinnen drei Gestaltwandler, mal erscheinen sie als Pflegerinnen, mal als Ritter in Rüstungen, mal als alptraumhafte Prostituierte – sie werden zu den inneren Dämonen Lears, die ihrem Herrn, ähnlich wie die Hexen in „Macbeth“, nicht mehr von der Seite weichen.

Aus der Glamour-Welt der aktuellen Politik und Hochfinanz katapultiert Lanik Shakespeares Protagonisten in eine zerstörte, vergiftete Natur. Aus Schlamm und Morast ragen archaische, hölzerne Pfahlbauten. Die teuren Maß-Anzüge des Hofes weichen immer fantastischeren Bekleidungen aus sagenumwobenen Zeiten, da schimmern Halskrausen und Brustpanzer durch. Die Welt, durch die der innerlich zerrissene König Lear irrt, zerfällt, sie ist aus den Fugen.

 

„König Lear“ von William Shakespeare - Inszenierung Tina Lanik - Premiere 30. Juni 2023/ 21:00 Uhr Stiftsruine