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Letzte Aktualisierung: 25.04.2024

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Ein Frankfurter am Hindukusch

Der Journalist Shams Ul-Haq zur Corona-Pandemie in Afghanistan

von Norbert Dörholt

(30.07.2020) Afghanistan ist weit weg, aber nicht weit genug, als dass nicht doch auch Frankfurter sich dorthin verirrten, beispielsweise der Journalist und Buchautor Shams Ul-Haq, gebürtiger Pakistaner mit seit langer Zeit deutscher Staatsbürgerschaft. Als profunder Kenner der Verhältnisse dieser Region hat er sich jetzt auch mit der Frage beschäftigt, wie das Corona-Virus die eh schon traurige Lage dort zusätzlich beeinflusst.

Shams Ul-Haq gehört dem Frankfurter Journalistenverband an und hat sich besonders als Enthüllungs- und Undercover-Journalist einen Namen gemacht. Viel beachtete und empfehlenswerte Titel von ihm sind seine Bücher „Die Brutstätte des Terrors“ und „Eure Gesetze interessieren uns nicht“.

Sein Bericht betrifft zwar eine schreckliche Situation jenseits der Horizonte, fernab im Hindukusch, und nicht das Rhein-Main-Gebiet – Gott sei Dank ist es hier anders. Aber in einer Zeit, da die Völker immer näher zusammenrücken, sei es durch Reisen oder die stets enger und schneller werdenden medialen Kontakte, wirft auch Frankfurt live gerne einen Blick über den Tellerrand in ein Land, in dem wohl keiner von uns gern leben würde. Nachstehend veröffentlichen wir also die Schilderungen, die Shams Ul-Haq über dieses arg gebeutelte Land und die Leiden der Menschen dort schrieb:

„Die USA planen den Truppenabzug aus Afghanistan. Der Bürgerkrieg geht unverdrossen weiter. Die Pandemie bedroht längst alle Seiten. Ein Pressesprecher der Taliban erklärt, wie die radikalislamische Truppe ihre Kämpfe finanziert, welche Rolle Corona spielt. Einfache Leute müssen zusehen, wie sie ihre Kinder ohne Einkommen ernähren.

Am 29. Februar hatte der US-Außenminister Mike Pompeo in Doha, der Hauptstadt von Katar, mit Vertretern der Taliban ein Papier unterzeichnet, das 18 Jahre nach dem Einmarsch der USA in Afghanistan vorschnell als Friedensabkommen durch die Medien zirkulierte. Davon kann keine Rede sein. Vielmehr handelte es sich um Sondierungsgespräche mit dem offiziellen Ziel der USA, den bisher längsten Krieg ihrer Geschichte so langsam zum Ende zu bringen, die eigene Truppenstärke erst von 13000 auf 8600 Soldaten und schließlich auf Null zu reduzieren. Die Taliban, die in weiten Teilen des Landes längst wieder Fuß fassten, sollen zugesagt haben, Terrorgruppen wie Al-Qaida keinen Unterschlupf mehr zu gewähren und Friedensgespräche mit der Regierung in Kabul aufzunehmen.

Die Taliban-Anschläge gingen nach dem Doha-Treffen weiter. Die Verantwortung bestreitet Mohammed Sohail Shaheen nicht, der Pressesprecher der Taliban, der in Doha im Exil lebt. Der einstige Vize-Botschafter in Pakistan und ehemalige Chefredakteur der englischsprachigen „Kabul Times“ erklärt im Gespräch über WhatsApp mit ruhiger Stimme, nach den Gesprächen mit dem US-Außenminister greife man vorerst keine amerikanischen oder sonstigen Stellungen ausländischer Truppen an. Das Ziel sei jedoch klar definiert, „die Besatzer müssen raus“.

Bei den Verhandlungen mit den Amerikanern sei es auch darum gegangen, die 5000 Talibankämpfer frei zu bekommen, die in afghanischen Gefängnissen säßen. Der Iran und die Türkei hätten längst Taliban-Soldaten entlassen. Man wäre bereit, sofort Friedensgespräche mit der Regierung in Kabul zu führen, wenn die dem Beispiel folgten.

Anschläge kosten Geld. Der Verdacht liegt nahe, dass Interessengruppen im Ausland die Taliban-Truppen finanzieren. „Wir benötigen kein Geld von außerhalb“, entgegnet Mohammed Sohail Shaheen, „über 70 Prozent der Landwirtschaftsproduktion unterliegen unsere Kontrolle“. Die Bauern zahlten  Steuern an die Taliban. Die organisierten im Gegenzug Vertriebswege und Transport, „auch das Stromgeschäft liegt in unseren Händen“.

Längst steht Regierungstruppen und Taliban mit dem Coronavirus ein gemeinsamer Feind gegenüber. Am 6. Mai nannten die Behörden 3292 Angesteckte, 458 Genesene und 104 Todesfälle. Jeder weiß, die Zahlen liegen um ein Vielfaches höher. In der afghanischen Armee rücke man der Gefahr mit strengen Hygienemaßnamen auf den Leib, erklärt Fawad Aman, ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, dem internationalen Nachrichtenmagazin „The Diplomat“. Waheed Omar, Berater von Präsident Ashraf Ghani, hofft, auch die Taliban hätten den Ernst der Lage verstanden und zeigten sich zur Zusammenarbeit bereit.

In Kundus passiert gegen den Willen der Taliban nichts. Ein Journalist, der anonym bleiben will, beobachtet, dass sich die Taliban in der Provinz als Retter präsentieren und Schutzmasken verteilen. Wer sich krank fühle, solle sich melden. Sie hätten Kapazitäten, Tests durchzuführen. Er wisse nicht, wie die Taliban an die Mittel gelangten. Der Verdacht: Wenn eine Ladung Schutzmasken ankommt, versteht der Vertreter der örtlichen Behörde auf Anfrage schnell, dass es besser wäre, die Masken den Taliban zu überlassen.

Taliban-Sprecher Mohammed Sohail Shaheen berichtet jedoch etwas ganz anderes. Man stünde nicht nur in gutem Kontakt zur Weltgesundheitsorganisation (WHO), sondern auch zu Emergency. Die humanitäre NGO mit Sitz in Mailand unterhält über 30 Erste-Hilfe-Posten Sanitätszentren in Afghanistan. Der Taliban-Sprecher erklärt, als die Pandemie ins Land schwappte, „haben die Mitglieder unserer Gesundheitskommission vom ersten Tag an Flyer verteilt und die Bevölkerung informiert“. Die Vertreter von Gesundheitsorganisationen könnten sich in Taliban-Gebieten angstfrei bewegen, „sie haben unseren Schutz“.

Den Vorwurf, man nutze Corona für die eigene Propaganda, um so neue Kämpfer zu rekrutieren, weißt Mohammed Sohail Shaheen zurück. Es handele sich um Falschinformationen von Regierungs- und Geheimdienstseite, „unsere Gesundheitsorganisation arbeitet in ganz Afghanistan, welchen Vorteil sollen wir aus dem Coronavirus bitte ziehen?“

Fatima A. (Name geändert) aus Kundus erzählt, seit Wochen dürfe sie das Haus quasi nicht nicht mehr verlassen. Wie die Mutter von vier Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren ihre Familie unter den Umständen am Leben halten soll, dafür interessiert sich keine Behörde in dem Land, in dem die Vertreter staatlicher Institutionen in der Regel ihre Position nutzen, um das Wohlergehen der eigenen Sippschaft zu sichern.

Während der Herrschaft der Taliban durften Mädchen nicht zur Schule. Heute dürfte Fatimas Tochter zwar hin, die Mutter könne jedoch weder sie noch ihre drei Söhne schicken, unabhängig von Corona. Schuldgeld müsste die 45-Jährige zwar nicht bezahlen, aber es fehle an Mitteln für Stifte, Hefte, Bücher und die Schuluniform, „Ranzen könnten wir uns erst recht nicht leisten“. Die Kinder besuchen die Koranschule, „die kostet nichts“.

Vor drei Jahren starb Fatimas Mann an Diabetes. Fatima wurde kurz nach der Hochzeit mit 21 Jahren schwanger. Ihr Mann heuerte die nächsten elf Jahre als Gastarbeiter im Iran an, nicht nur um Frau und Kind zu versorgen, sondern auch die eigenen Geschwister. Der erstgeborene Sohn wäre heute 23 Jahre alt. Er starb als Wehrpflichtiger während eines Gefechts gegen die Taliban vor zwei Jahren.

Die Witwe hält die Familie als Köchin und Putzfrau über Wasser. Damit verdient Fatima um die 8000 Afghani pro Monat. Die Afghanen nennen die Währung auch 94 Jahre nach der Umstellung nach wie vor Rupie; 8000 Rupien entsprechen knapp 100 Euro. Davon geht die Hälfe für die Miete drauf. Um Strom zu sparen, schalten die fünf Familienmitglieder nur noch in einem Zimmer Licht an. Die Arbeit fällt wegen Corona aus. Ohne Einkommen kann die Frau die Miete nicht zahlen. Fatima ist froh, dass es der Vermieter mittlerweile aufgegeben hat, alle naselang umsonst vorbei zu schauen.

In Afghanistan ist es üblich, sich permanent für eine Katastrophe zu wappnen. In manchen Haushalten lässt sich Fatima nicht in Geld, sondern in Naturalien zu bezahlen. Die Währung heißt Mehl. Die Familien bunkern möglichst so viel, dass es reicht, ein viertel Jahr überleben zu können. Außerdem hat Fatima Glück. In der gleichen Straße wohnt auch ihr Bruder, der ihr hin und wieder was zustecken kann. Die Gesellschaft funktioniert ohnehin nur, weil es üblich ist, dem Nachbarn in der Not zu helfen. „Außerdem habe wir gerade Ramadan“, erklärt Fatima. Muslime sind dann besonders angehalten, Armen zu helfen.

Mutter Fatima erklärt, sie wäre bereit, mit den Taliban innerlich ihren Frieden zu schließen, wenn das Töten endlich aufhöre. Das Abkommen von Doha interessiere sie nicht. Man habe schon immer ganz viele Reden gehört, aber nie Frieden erlebt: „Corona ist viel leichter zu ertragen als der Krieg.“