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Letzte Aktualisierung: 26.04.2024

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Diskriminierung kann bis zum Suizid führen

Internationaler Tag gegen Anfeindungen von LSBTIQ

von Sarah Blaß

(13.05.2022) Anlässlich des Internationalen Tages gegen Homo-, Bi-, Inter-, Trans- & Asexuellenfeindlichkeit (IDAHOBITA*) schlägt Prof. Dr. Stefan Timmermanns, Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS), Alarm: „Negative Einstellungen, Ablehnung oder gar feindliche Haltungen gegenüber LSBTIQ* (die Buchstaben stehen für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter* und queere Menschen), in der Fachsprache Homo- oder Transnegativität genannt, sowie Diskriminierungserfahrungen erhöhen die Suizidgefahr dieser Gruppe im Vergleich zur Gesamtbevölkerung um ein Vielfaches.“

Prof. Dr. Stefan Timmermanns, Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit an der Frankfurt AUS
Foto: Frankfurt UAS
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Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Frankfurt UAS. Zu den Schwerpunktthemen der Studie „Wie geht’s euch?“ (WGE) gehören neben der psychosozialen Gesundheit und dem Wohlbefinden von LSBTIQ* in Deutschland unter anderem das Coming-out sowie Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen. Außerdem wurde nach geeigneten Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation queerer Menschen gefragt. Unter der Leitung von Prof. Dr. Stefan Timmermanns und Prof. Dr. Heino Stöver wurden Datensätze von 8700 LSBTIQ* Personen aus Deutschland ausgewertet.

Hintergrund der Studie ist das theoretische Modell des Minderheitenstresses und eine damit erklärbare erhöhte Vulnerabilität von LSBTIQ*. Aus früheren Untersuchungen geht hervor, dass LSBTIQ* häufiger an körperlichen, seelischen und chronischen Erkrankungen leiden. „Zwei Themen sind besonders hervorzuheben, da sie auf das Leben sehr vieler LSBTIQ* einen Einfluss haben. Zum einen geht es um die Theorie des Minderheitenstresses, der aus Diskriminierungserfahrungen und queernegativen Einstellungen resultiert und für die erhöhte Prävalenz von psychischen Erkrankungen, Substanzkonsum sowie Suizid bei LSBTIQ* verantwortlich ist. Zum anderen gibt es neben negativen Erfahrungen im Leben von LSBTIQ* jedoch auch Ressourcen, wie z.B. Kontakte zu anderen queeren Menschen, die es vielen von ihnen ermöglichen, trotz aller Widrigkeiten ein überwiegend gutes und zufriedenes Leben zu führen“, betont Timmermanns.

Zusammenfassend stellt Timmermanns fest: „In der Untersuchung konnten zahlreiche Belege für Minderheitenstress von LSBTIQ* und damit zusammenhängende, höhere psychische Belastungen gefunden werden. Insbesondere in Bezug auf eine Suizidgefährdung der an dieser Studie teilnehmenden Personen konnte belegt werden, dass diese fast sechs Mal höher lag als in der Gesamtbevölkerung. Bei trans* und gender*diversen Personen war der Faktor sogar um das Zehnfache erhöht. Dies bestätigt vorherige Untersuchungsergebnisse aus Nordamerika und Australien.“

Einschränkend stellt Timmermanns klar, dass die Ergebnisse der WGE-Studie trotz der hohen Zahl von 8700 Teilnehmern nicht repräsentativ für alle in Deutschland lebenden LSBTIQ* sind, da die Teilnahme an dem Online-Fragebogen freiwillig erfolgte und somit eine Selbstselektion stattfand. Da das Gros der Teilnehmer jedoch einen mittleren oder hohen sozioökonomischen Status hat – was als Schutzfaktor gewertet werden kann –, könnte das tatsächliche Ausmaß der Suizidgefährdung von LSBTIQ* in Deutschland noch höher sein, schätzt Timmermanns.

Mit Blick in die Zukunft ergänzt Timmermanns: „Auf Grundlage unserer Ergebnisse sollten Beratungs- und Unterstützungsangebote für LSBTIQ* ausgebaut und weiter verbessert werden. Neben dem Kampf gegen Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt gegen LSBTIQ* sollte aus den Ergebnissen auch eine stärkere Beachtung der Themen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt bei der Beratung und Unterstützung suizidgefährdeter Personen abgeleitet werden.“

Die anonyme Befragung fand von November 2018 bis März 2019 statt. Befragt wurden rund 8.700 Personen. Das Durchschnittsalter lag bei 38,3 Jahre (Allgemeinbevölkerung: 44,5 Jahre). Einen Migrationshintergrund gaben rund 20 Prozent an (Allgemeinbevölkerung: ca. 26 %). Die geschlechtliche Identität teilte sich folgendermaßen auf: cis-weiblich (1207), cis-männlich (6608), trans-männlich (266), trans-weiblich (133), trans* (259), gender*divers (160), inter* (45).

Zur sexuellen Orientierung wurden diese Angaben gemacht: schwul (5735), lesbisch (812), bisexuell (1210), heterosexuell (86), asexuell (54), orientierungs*divers (387), pansexuell (391), keine Angabe (25). Die Befragung wurde von der Professur für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit der Frankfurt UAS gemeinsam mit verschiedenen Community-Organisationen (u. a. Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Schwulenberatung Berlin und Lesben Informations- und Beratungsstelle e.V. Frankfurt) durchgeführt.

Durch die finanzielle Unterstützung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst im Rahmen des Programms „Forschung für die Praxis“ konnte die Umfrage unter LSBTIQ* in ganz Deutschland erfolgen. Weitere Fördermittel kamen aus dem Programm „IFOFO“ der Frankfurt UAS sowie dem Kompetenzzentrum Soziale Interventionsforschung (KomSI), das am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Hochschule angesiedelt ist sowie dem Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen (gFFZ).

Die Ergebnisse der Studie sind bei Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel veröffentlicht. Unter dem Titel „Wie geht’s euch?“ ist das Werk Ende 2021 erschienen.

Zur Person

Prof. Dr. Stefan Timmermanns ist seit 2013 als Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit an der Frankfurt UAS tätig. Er ist Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualpädagogik e.V. und war Mitglied der Kommission zum gesetzlichen Verbot sog. Konversionstherapien. Unter anderem wirkte er an der Studie „Wie leben lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Jugendliche in Hessen?“ mit, die Teil der Umsetzung des Hessischen Aktionsplans für Akzeptanz und Vielfalt ist und aus Landesmitteln finanziert wurde. Details der Erhebung sind unter http://bit.ly/LSBTQ-Jugendliche nachzulesen.

Queer und Behinderung zusammen denken: Gedankenwerkstatt und Wanderausstellung

Das Zusammenwirken von geschlechtlicher sowie sexueller Vielfalt und Behinderung ist Thema der Aktionswochen vom 14. Juni bis 1. Juli 2022 an der Frankfurt UAS. Hierfür holt die Hochschule gleich zwei Projekte auf den Campus. Zudem findet ein thematisches Begleitprogramm mit wissenschaftlichen und kulturellen Beiträgen statt. Prof. Dr. Stefan Timmermanns hält unter anderen den Vortrag „Psychosoziale Gesundheit und chronische Erkrankungen bei LSBTIQ*“.

Unter dem Titel „community_inklusiv“ organisiert das LSBT*IQ-Netzwerk Rhein-Main am 14. Juni eine eintägige Gedankenwerkstatt. Ziel ist, gemeinsam mit Betroffenen, Vereinen und Institutionen konkrete Bedarfe an der Schnittstelle von LSBTIQ* und Behinderung aufzudecken und eine langfristige Vernetzung anzustoßen. Dadurch soll sowohl inklusive LSBTIQ*-community-Arbeit als auch eine LSBTIQ*-sensible Behindertenarbeit gefördert werden. Neben fachlichen Inputs am Vormittag bieten anschließende Workshops Raum zum Austausch zu spezifischen Themen – geplant sind Formate zu Arbeitswelt, Bildung, Community sowie Sexualität und Gesundheit.

„Raum für ...! Unboxing Heteronormativität“ heißt die Wanderausstellung, die Studenten der Hochschule Konstanz und der Universität Konstanz gestaltet haben. In neun multimedialen Boxen, die an Telefonzellen erinnern, sind Besucher eingeladen, sich mit Fragen zu gängigen Vorstellungen von Geschlechtsidentität und Sexualität auseinander zu setzen. Anlässlich der Aktionswochen wird die Ausstellung baulich und technisch angepasst, um einen möglichst barrierearmen Zugang zu bieten. Die Ausstellung kann vom 20. Juni bis 1. Juli 2022 besucht werden. Die Öffnungszeiten der Ausstellung sind: Montag bis Freitag: 8:00 bis 21:45 Uhr, Samstag von 8:00 bis 19:45 Uhr, sonn- und feiertags geschlossen. Mehr über die Ausstellung: www.raumfuer.eu/

Programm Aktionswochen Queer und Behinderung zusammen denken

14. Juni, 9-15:30 Uhr: Gedankenwerkstatt „community_inklusiv" (vor Ort und online)

20. Juni, ab 13 Uhr: Eröffnung der Ausstellung „Unboxing Heteronormativität" (vor Ort)

22. Juni, 16-18 Uhr: Vortrag von Prof. Dr. Stefan Timmermanns: Psychosoziale Gesundheit und chronische Erkrankungen bei LSBTIQ* (vor Ort und online)

23. Juni, 17:45-19:45 Uhr: Vortrag von Simon Klein M.A.: Alltag mit Autismus – Das Asperger-Syndrom bei Erwachsenen (vor Ort und online)

28. Juni, 18-20 Uhr: Vortrag von Prof. Dr. Klaus Müller: Selbstbestimmt und sinnerhaltend leben trotz Pflegebedürftigkeit – Herausforderungen eines diversitätssensiblen Pflegeangebotes für die LGBT*IQ-Community (vor Ort und online)

Anmeldung und mehr Informationen: http://www.frankfurt-university.de/queer-behinderung

Möglichkeiten zur Beratung und Unterstützung suizidgefährdeter Personen:

Wenn Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie – auch anonym – mit anderen Menschen über Ihre Gedanken sprechen können.

Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222. Der Anruf bei der Telefonseelsorge ist nicht nur kostenfrei, er taucht auch nicht auf der Telefonrechnung auf, ebenso nicht im Einzelverbindungsnachweis.

Ebenfalls von der Telefonseelsorge kommt das Angebot eines Hilfe-Chats. Die Anmeldung erfolgt auf der Webseite der Telefonseelsorge unter https://www.telefonseelsorge.de/. Den Chatraum kann man auch ohne vereinbarten Termin betreten. Sollte kein Berater frei sein, klappt es in jedem Fall mit einem gebuchten Termin.

Das dritte Angebot der Telefonseelsorge ist die Möglichkeit der E-Mail-Beratung. Auf der Seite der Telefonseelsorge melden Sie sich an und können Ihre Nachrichten schreiben und Antworten der Berater lesen. So taucht der E-Mail-Verkehr nicht in Ihren normalen Postfächern auf. (idw)