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Letzte Aktualisierung: 26.04.2024

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Starkes Aufbegehren gegen Tierversuche

von Michael Hörskens

(21.06.2019) Labormäusen werden Tumorzellen implantiert, um Krebs zu erforschen. Versuchsaffen bekommen Elektroden ins Gehirn eingeführt, um die Aktivität von Neuronen zu messen. Die Beispiele sind vielfältig und immer mit Schmerzen, Leiden, Schäden oder Ängsten für die Tiere verbunden. Jedes Jahr müssen rund 2,8 Millionen Mäuse, Ratten, Kaninchen, Fische und andere Tiere allein in deutschen Laboren im Namen der Medizin und der Forschung leiden und sterben. Es geht auch anders, sagen Tierversuchs-Gegner.

Die Arbeitsgruppe Kurpfalz von Ärzte gegen Tierversuche informierte in Heidelberg mit einer Silent Line über Tierversuche
Foto: Ärzte gegen Tierversuche
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Vor rund 100 Jahren wurde das Prinzip der Tierversuche in der modernen Medizin etabliert – ein enormer Fortschritt für die Forschung, an dem Berliner Wissenschaftler wie Robert Koch, Paul Ehrlich, Emil von Behring und Otto Warburg einen großen Anteil hatten. Die Hoffnung der Menschheit, Krankheiten wie Krebs oder Infektionen zu besiegen, konnte damit aber nur zum Teil erfüllt werden.

„Offizielle Zahlen der amerikanischen Arzneimittel-Zulassungsbehörde FDA besagen, dass rund 97 Prozent der in Tierversuchen als unbedenklich und wirksam bezeichneten Medikamente in den folgenden klinischen Studien am Menschen wegen starker Nebenwirkungen aussortiert oder nach erfolgter Zulassung vom Markt genommen werden“, berichtet Dr. Wulf Heintz von der Vereinigung „Ärzte gegen Tierversuche“ in Heidelberg. Auch die amerikanischen National Institutes of Health geben an, dass 95 Prozent aller Medikamente, die sich im Tierversuch als sicher und effektiv erweisen, in Versuchsreihen an Menschen durchfallen. „Ergebnisse aus Tierversuchen seien also bei der Medikamentenentwicklung in der Regel nicht auf den Menschen übertragbar und könnten durch effizientere, tierfreie Tests ersetzt werden“, sagt der promovierte Biologe. Etwa durch humanen Zelllinien oder Organnachbildungen (Organoide), die wesentlich bessere Ergebnisse liefern.

„Tierversuche sind im Zeitalter von Computermodellen und Multiorganchips ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, das im 21. Jahrhundert keinen Platz haben darf“, erklärt Dr. Corina Gericke, Vizevorsitzende von Ärzte gegen Tierversuche. „Eine Vielzahl von Beispielen zeigt, wie grausam, aber auch wie wissenschaftlich unsinnig Tierversuche sind“, so Corina Gericke. „Die sogenannten Modelle haben nichts mit der klinischen Situation beim Menschen gemein.“

Von der Pro-Tierversuchslobby werden Tierversuche regelmäßig verharmlost, sagt die Medizinerin. Die EU ermöglicht indes inzwischen ein Verbot solcher Tierversuche mit Schweregrad „schwer“, das in Deutschland aber ignoriert werde. Der Verein fordert von der Politik, als Schritt auf dem Weg zur Abschaffung wenigstens den allerschlimmsten Tierversuchen einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben.

 „Obwohl die EU-Tierversuchsrichtlinie das ausdrückliche Ziel vorgibt, Tierversuche für wissenschaftliche Zwecke vollständig zu ersetzen, sobald dies möglich ist, ist bisher wenig passiert“; teilt  Christina Ledermann vom Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.  mit.  Die Bundesregierung zeige bisher leider kaum Interesse, an dieser traurigen Situation etwas zu ändern, sagt sie. „Wir fordern Bundesforschungsministerin Anja Karliczek und Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner auf: Setzen Sie sich umgehend für einen  konkreten strategischen Maßnahmenplan ein, der einen systematischen Ausstieg aus dem System Tierversuch ermöglicht“, betont Christine Lindemann. „Es müsste doch längst in Regierungskreisen bekannt sein, dass es wirksame tierversuchsfreie Methoden wie bildgebende Verfahren wie CT und MRT gibt, daneben Computer-Software, mit deren Unterstützung die Wirkung von Substanzen hochsensibel an Humanzellen oder -geweben  getestet werden kann“, ergänzt Wulf Heintz.

Woanders ist man bei der Thematik weiter, berichtet Heintz: „Die Niederlande machen es vor. Den Haag hatte bereits 2016 einen Maßnahmen-Plan gegen Tierversuche veröffentlicht, der vorgibt bis 2025 möglichst alle Tierversuche zu stoppen. Jetzt sollte Deutschland nachziehen.“ Sehr engagiert agiert auch Tierschutzorganisation PETA. Sie fördert seit Jahrzehnten die Entwicklung und Validierung tierfreier Testmethoden. Regelmäßig arbeitet man mit Partnern in der Industrie und mit Regulierungsbehörden zusammen, damit diese Versuchsmethoden auch durchgesetzt werden.

Es gibt Hoffnung. Denn in der Industrie ist man teilweise wach geworden und orientiert sich an realen Fakten. Ein Beispiel ist das Medikament Aducanumab der Firma Biogen, das sich in die lange Liste der Alzheimer-Arzneimittel einreiht, die in Tierversuchen große Hoffnungen geweckt haben, aber bei Patienten hingegen wirkungslos blieben. Ein häufiges Phänomen, das der Verein Ärzte gegen Tierversuche seit Jahren kritisiert. Biogen mit dem Hersteller Eisai haben die vorgeschriebenen klinischen Studien am Menschen abgebrochen. Weitere Pharmakonzerne wie AstraZeneca, Pfizer oder Merck haben im vergangenen Jahr ebenfalls Forschungsprojekte zu Alzheimer- und Demenz-Medikamenten eingestellt, da die Wirksamkeit beim Menschen ausblieb. Auch der Chemiekonzern BASF hat Tierversuche teilweise aufgegeben beziehungsweise durch tierversuchsfreie Testmethoden ersetzt.

Eine Depression ist eine ernst zu nehmende Krankheit.  Sinnlose Versuch an Mäusen und Ratten mittels dem berüchtigten „Forced Swim Test“ ergaben jedoch, dass von den 47 von PETA USA identifizierten Präparaten der Pharmakonzerne AbbVie, Pfizer, Bristol-Myers Squibb und Eli Lilly, die auf diese Weise an Tieren getestet wurden, aktuell kein einziges zur Behandlung von Depressionen beim Menschen zugelassen ist. Nach einem Treffen mit PETA USA hat sich AbbVie verpflichtet, den Forced Swim Test nicht mehr durchzuführen. AbbVie ist der erste Pharmakonzern, der sich öffentlich gegen das Beinahe-Ertrinken von Versuchstieren ausgesprochen hat.

Eine weitere gute Nachricht: Das US-Pharmaunternehmen Vanda Pharmaceuticals Inc. hat deutlich Stellung gegen Tierquälerei bezogen und sich geweigert, Tierversuche an Hunden durchzuführen. Obwohl die Arzneimittelbehörde FDA zu den tödlichen Tests zwingen wollte. Vanda weigerte sich mit der Begründung, die Versuche seien sowohl ethisch nicht vertretbar als auch wissenschaftlich unnötig. Noch dazu stellte das Unternehmen einen Strafantrag gegen die FDA.

 „Es gibt gute Beispiele dafür, dass Ergebnisse aus Tierversuchen nicht auf den Menschen übertragbar sind. Schaut man sich die ‚Tiermodelle‘ für viele Erkrankungen an, ist das nicht verwunderlich“,  kritisiert Dr. Tamara Zietek, Wissenschaftlerin bei Ärzte gegen Tierversuche. „Die Forschung zur Therapie dieser Erkrankungen ist wichtig. Man muss endlich humanbasierte Modelle für die Medikamentenentwicklung heranziehen, um die wahren Ursachen beim Menschen aufzuklären und erfolgreiche Therapien zu entwickeln“, unterstreicht sie. Gehirn-Organoide, die aus Zellen von Patienten gezüchtet werden, seien hierfür beispielsweise ein vielversprechender Ansatz, der unbedingt gefördert werden muss. „Das würde zum einen den Tieren dienen, die in Versuchen unnötig gelitten haben und zum anderen den Patienten, denen nach dem Schüren falscher Hoffnungen nur eine weitere Enttäuschung bleibt“, so Zietek.

Inzwischen tut sich in der deutschen Forschung etwas. So nimmt ein partnerschaftliches Projekt der Technischen Universität (TU) Berlin und der Universitätsmedizin der Charité Gestalt an. An der Seestraße in Wedding soll ein neuer gemeinsamer Forschungscampus entstehen. Als Herzstück des Campus ist der Forschungsbau „Der Simulierte Mensch“ (Si-M) vorgesehen. Mediziner und Biotechnologen werden dort daran arbeiten, die Funktionen menschlicher Zellen und Gewebe mit neuen Technologien nachzuahmen. „Mit den humanen Modellsystemen entsteht eine vollkommen neue Basis, um die menschliche Physiologie in ihrer Komplexität zu erfassen und Erkrankungen besser zu verstehen. Auf dieser Grundlage können wir auch neue diagnostische und therapeutische Strategien entwickeln“, sagte Axel Radlach Pries, Dekan der Charité.

Vor allem die Immunologen, Krebsmediziner und Forscher des Bereichs regenerative Medizin der Charité, in dem es zum Beispiel um die Heilung von Herzgewebe oder Knorpeln geht, interessieren sich für die neuen Technologien. Ziel ist es, Systeme aus menschlichen Zellen zu entwickeln, die für Wirkstofftests und andere Versuche besser geeignet sind als Versuchstiere. Besonders im Hinblick auf modere Therapien beim Krebs hält man die Zusammenarbeit für vielversprechend. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass eines Tages deutlich weniger Tierversuche für die biomedizinische Forschung notwendig sein werden.

Doch nicht überall ist man schon so weit. In Heidelberg, einer der deutschen Tierversuchs-Hochburgen, werden vor allem am Uniklinikum und im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ)  jährlich Tausende Versuche mit Wirbeltieren durchgeführt. Das DKFZ bezeichnete noch vor kurzem Tierversuche als unverzichtbar, weil man ohne diese auf wirksame Medikamente verzichten müsste. „Diese apokalyptische Argumentation zu einem sehr sensiblen Thema ist gleichermaßen unseriös wie falsch“, erklärt Wulf Heintz von Ärzte gegen Tierversuche. Schließlich seien in dem Forschungszentrum die negativen Ergebnisse der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA bei der Medikamentenentwicklung bekannt.

Gegen das DKFZ ermittelt aktuell die Staatsanwaltschaft, wegen illegaler Tierversuche und deren Vertuschung, ähnlich wie zuvor bei Skandalen u.a. am MPI Tübingen (Affenversuche), an der Kerckhoff-Klinik Bad Nauheim (Versuche mit Mäusen und Schweinen) und an der Uni Münster (Versuche mit Mäusen). Der bundesweite Verein Ärzte gegen Tierversuche hat inzwischen Strafanzeige gegen Forscher der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) wegen Verdachts auf Verstoß gegen das Tierschutzgesetz gestellt. Nach Recherchen des Vereins hat eine Arbeitsgruppe der Mund- Kiefer- und Gesichtschirurgischen Klinik vermutlich über mehrere Jahre Tierversuche an Beagle-Hunden und eventuell auch Schweinen ohne ordnungsgemäße Genehmigung durchgeführt.

Um auf das Leid der Tiere in den Laboren und die wissenschaftliche Fragwürdigkeit dieser Forschungsmethode aufmerksam zu machen beteiligte sich die Arbeitsgruppe Kurpfalz von Ärzte gegen Tierversuche auch am Internationalen Tag zur Abschaffung der Tierversuche im April. Dieses Mal lud man am Heidelberger Anatomiegarten zu einem Aktionstag mit Infostand und einer Silent Line ein, wo die Tierversuchsgegner mit Plakaten und Fakten über die Thematik informierten.

Die Vereinigung Ärzte gegen Tierversuche e.V. besteht seit 1979 und ist ein bundesweiter Zusammenschluss aus Ärzten, Tierärzten und Naturwissenschaftlern, die Tierversuche aus ethischen und wissenschaftlichen Gründen ablehnen. Der Verein engagiert sich für eine moderne, humane Medizin und Wissenschaft ohne Tierversuche, die sich am Menschen orientiert und bei der Ursachenforschung und Vorbeugung von Krankheiten sowie der Einsatz tierversuchsfreier Forschungsmethoden im Vordergrund stehen.