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Letzte Aktualisierung: 25.04.2024

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Fringsen

von Ingeborg Fischer

(18.12.2017) Es war kurz vor Weihnachten im Hungerwinter 1946/47 nach dem 2. Weltkrieg, einer der kältesten Winter in Deutschland seit Jahrzehnten. Und es fehlte an Wohnungen, weil viele Menschen ausgebombt waren, an Brennmaterial und vor allem an Nahrungsmitteln.

Meine Mutter wusste nicht, wie sie uns zwei Kinder – meinen Bruder und mich – über diesen Winter bringen sollte. Wir wohnten mitten in der Stadt und  mit meiner Großmutter ging sie nachts oft zum „Kokslesen“ auf den Bahndamm , um dann wenigstens ein wenig einheizen zu können. An einem ganz besonders kalten Winterabend hat meine Oma Julchen ein dickes Feder-Kissen auf den Gepäckträger ihres alten Fahrrades gepackt, ihre große Handtasche an den Lenker gehängt, mich – ich war 4 ½ Jahr alt - kurzerhand auf das Kissen gesetzt und ist zu irgendwelchen Feldern in Oberrad  gefahren.

Da standen in Reihen Rosenkohlstrünke erstarrt in der eisigen Kälte. Es dämmerte schon, und ein Eiseshauch lag über der Landschaft. Kein Mensch war zu sehen. Oma Julchen hat dann – ich erinnere mich wirklich sehr genau daran – ein kleines Beilchen aus der Tasche genommen und -ratz fatz- sechs oder sieben Rosenkohlstrünke abgehackt und in ihrer großen Tasche verschwinden lassen. Dann hat sie mich schnell wieder auf den Gepäckträger gesetzt und ist – haste net gesehe – so schnell sie konnte mit mir auf dem Fahrrad zur Mama zurück gefahren. Wahrscheinlich hat sie mich mitgenommen, um Mitleid zu erregen, falls sie erwischt worden wäre.

Abends gab es Rosenkohl-Gemüse. Ich habe nie etwas Besseres gegessen. Und noch heute ist Rosenkohl eine meiner Leibspeisen.

Der Kölner Kardinal Frings hielt in diesem Hungerwinter in Köln zu Silvester eine Predigt und sagte zum siebten Gebot „Du sollst nicht stehlen“: Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann“. Damals wurde ein neues Wort geboren, das seinen Namen unsterblich machte: „fringsen“, also stehlen aus blanker Not.