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Letzte Aktualisierung: 26.04.2024

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Eine Brücke in die Vergangenheit bauen

Nachfahren verfolgter ehemaliger Frankfurter gehen in der Stadt auf Spurensuche

von Anja Prechel

(07.05.2018) Jedes Frühjahr lädt die Stadt Frankfurt die Nachkommen jüdischer sowie politisch oder religiös verfolgter ehemaliger Frankfurter ein, sich auf die Spuren ihrer Vorfahren zu begeben.

Sie besuchen die Straßen, in denen Mutter oder Vater aufgewachsen sind, sie sprechen mit Schülern, die in genau dem Klassenzimmer lernen, in dem vielleicht auch ihre Großeltern über den Heften saßen. Sie lernen Frankfurt kennen – nicht als den Ort des Bösen, sondern als einen Ort großer Weltoffenheit.

„Die meisten Gäste unseres Besuchsprogramms kostet es eine gewisse Überwindung, nach Deutschland zu reisen, nach Frankfurt, wo ihren Eltern und Großeltern so viel Schlimmes widerfuhr“, sagt Oberbürgermeister Peter Feldmann. „Mit unserem Besuchsprogramm wollen wir ihnen eine Brücke bauen – eine Brücke zu den Orten und Geschichten, an denen ihre Vorfahren gelebt, die sie erlebt haben. Für viele Nachkommen ist Frankfurt mit großem Schrecken und gleichzeitig einem starken Heimatgefühl verbunden.“

Oberbürgermeister Walter Wallmann hatte das Besuchsprogramm initiiert. Seit 1980 haben rund 3500 ehemalige Frankfurter Bürger aus allen Teilen der Welt daran teilgenommen. Inzwischen sind es die Kinder und Kindeskinder, die in Frankfurt auf Spurensuche gehen. Das Protokoll der Stadt übernimmt dabei die Kosten für den Flug, die Unterkunft, für Eintrittskarten in Zoo, Palmengarten und das Museumsufer sowie Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Mit Ausnahme der Anreise gilt dies auch für eine Begleitperson. Das Protokoll organisiert außerdem das Rahmenprogramm des Besuchs.

Dieses Jahr sind die Gäste vom 2. bis 9. Mai in der Stadt. Sie kommen aus Chile, Kolumbien, Argentinien, aus USA, Großbritannien, Israel, Österreich und Norwegen. Ihr Besuch beginnt mit einem Kennenlernen im Hotel und einem Begrüßungsempfang im Palmengarten. Es folgen Stadtrundfahrten, Schulbesuche, bei denen die Gäste mit Schülern ins Gespräch kommen, Führungen durch das Exil-Archiv der Deutschen Nationalbibliothek, das Museum Judengasse und die Ausstellung im Hochbunker Ostend. Auch zu den Feierlichkeiten zum Deutsch-Israelischen Freundschaftstag im Kaisersaal sind sie eingeladen. Besonders viel Raum wird der Spurensuche eingeräumt – der Verein Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt unterstützt die Teilnehmer des Besuchsprogramms dabei, herauszufinden, wo genau Mutter oder Vater aufgewachsen sind, geheiratet haben, wo die Großmutter ihr Geschäft hatte, der Onkel gearbeitet hat – und diese Orte dann auch zu besichtigen.

„Es ist immer wieder berührend, wie emotional unsere Gäste reagieren, wenn sie zum Beispiel das erste Mal vor dem ehemaligen Wohnhaus ihrer Familie stehen“, sagt Peter Feldmann. „Für viele von ihnen lichtet sich dort der Nebel, der bisher über ihrer Vergangenheit lag.“ In den wenigsten Familien wurde und wird über die Zeit, in der sie noch in Deutschland lebten, gesprochen. Zu schrecklich waren und sind die Erinnerungen. Für die Nachfahren sind diese Tabuthemen oftmals wie blinde Flecken in der Familiengeschichte. Das Besuchsprogramm gibt ihnen die Möglichkeit, Lichts ins Dunkel zu bringen. „Sie erfahren, wo sie herkommen“, sagt Peter Feldmann.

Wer an dem Besuchsprogramm teilnehmen möchte, kann sich anmelden, indem er ein entsprechendes Formular ausfüllt. Zurzeit stehen etwa 300 Personen auf der Warteliste. Die Besucher, die in diesem Jahr in Frankfurt zu Gast sind, haben 2011 ihr Interesse an der Teilnahme bekundet. Oder sie gehören zur ersten Generation ehemaliger Frankfurter, sind also entsprechend betagt.

„Nur wenige Städte bieten ein solch umfangreiches Besuchsprogramm für Nachkommen jüdischer sowie politisch oder religiös verfolgter ehemaliger Bürger an wie Frankfurt“, betont Peter Feldmann. „Am regen Interesse lässt sich ablesen, wie wichtig dieses Angebot ist. Nicht nur für unsere Gäste, auch für die Stadt und ihre Gesellschaft. Denn mit jedem Erinnern werden wir ermahnt, die Gräueltaten des Naziregimes nicht zu vergessen und gegen etwaige aktuelle Strömungen aufzubegehren.“