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Letzte Aktualisierung: 26.04.2024

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‚Stadtrendite hat viele Gesichter‘

Von gemeinschaftlichen Wohnformen profitieren viele

von Ulf Baier

(30.09.2019) Die Nachfrage nach selbstorganisierten, gemeinschaftlichen und innovativen Wohnformen in Frankfurt steigt bereits seit einigen Jahren. Bereits 2006 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, entsprechende Projekte zu fördern.

Wohnprojekt 'Hestia – Gemeinschaftlich Wohnen in Harheim': Häuser
Foto: Stadt Frankfurt / Mariam Dessaive
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Doch für Interessierte war es schwer, an geeignete Liegenschaften zu kommen. Seitdem die Kommune den städtischen Liegenschaftsfonds aufgelegt hat und wieder Neubaugebiete ausweist, nimmt das Thema zusätzlich Fahrt auf – zum Vorteil der Menschen in den Wohnprojekten, aber auch deren Nachbarn. Unterschiedliche Vorhaben aus der Stadt und der Region präsentierten sich am 28. September auf der „13. Infobörse für gemeinschaftliches und genossenschaftliches Wohnen“ in den Römerhallen.

„Immer mehr Menschen erkennen, welche Vorteile gemeinschaftliche Wohnprojekte für sich und die Stadt bieten. Daher nimmt das Thema einen steigenden Stellenwert ein“, sagt Planungsdezernent Mike Josef. Beate Steinbach kümmert sich mit weiteren Kollegen im Amt für Wohnungswesen und der eigens dafür eingerichteten Koordinierungsstelle „Netzwerk für gemeinschaftliches Wohnen“ um das Thema. Die Stadtverordnetenversammlung hatte damals beschlossen, 15 Prozent neu ausgewiesener Bauflächen für gemeinschaftliches Wohnen zur Verfügung zu stellen. Doch aus unterschiedlichen Gründen habe das nicht immer geklappt, erläutert sie. „Seitdem die Stadt größere Flächen entwickelt, kann sie auch gezielter gemeinschaftliche Initiativen unterstützen“, erklärt Steinbach die Entwicklung.

Seit Inkrafttreten des Beschlusses wurden 180 Wohnungen für gemeinschaftliche Projekte realisiert; in den kommenden fünf Jahren sollen weitere 1000 hinzukommen. Mit dem Baulandbeschluss, auf den sich die Koalition geeinigt hat, sind Konzeptverfahren für gemeinschaftliches und genossenschaftliches Wohnen zukünftig ein fester Bestandteil der Stadtentwicklung. „Das lange Ringen hat sich gelohnt! Wir haben den Weg freigemacht für viele weitere innovative Wohnprojekte in Frankfurt“, freut sich Planungsdezernent Josef. Praktisch funktioniert das so: Sobald ein Grundstück zur Bebauung in Frage kommt, informiert die Koordinierungsstelle alle registrierten Initiativen. Sind diese interessiert, bringen sie ihre Vorstellungen einschließlich Finanzierungskonzept zu Papier. Welche Initiative dann das Grundstück zur Erbpacht überlassen bekommt, darüber entscheidet ein Vergabegremium. In diesem sitzen neben anderen der zuständige Ortsvorsteher, Vertreter der Koalitionsfraktionen und der Planungsdezernent. Die kommunale Selbstverwaltung kann mit diesem so genannten Konzeptverfahren entscheiden, welches Projekt ihrer Auffassung nach am meisten Positives für Nachbarschaft und den Stadtteil bringt. „Wir können auf diesem Weg aktiv Stadtteilentwicklung betreiben“, erklärt Planungsdezernent Josef.

Unterschiedliche Generationen leben unter einem Dach zusammen
„Wichtig ist uns, dass das Erdgeschoss für das gemeinschaftliche Zusammenleben zur Verfügung steht“, sagt Steinbach. Wie das aussehen kann, zeigt etwa das Wohnprojekt „BeTrifft“ in der Niederräder Triftstraße. Die „Wohngeno-Genossenschaft für gemeinschaftliches Wohnen“ baut auf dem 2630 Quadratmeter großen Grundstück 51 Wohnungen für insgesamt 110 Personen. Deren Größe variiert zwischen 28 bis 126 Quadratmetern Fläche. Im Erdgeschoss sollen neben anderen ein Werkatelier und ein Gemeinschaftsraum entstehen, erläutert Anne Lamberjohann vom Vorstand der Genossenschaft. „Für den gibt es schon Anmeldungen vom Ortsbeirat“, freut sie sich. Die Suchtselbsthilfegruppe „Die Fleckenbühler“, interessiere sich, ein Café und einen Laden für Bioprodukte in dem Haus zu betreiben. Zusätzlich soll ein Kulturverein mehr Leben in den Stadtteil bringen. Wer einziehen will, musste Mitglied der Genossenschaft werden. Pro Quadratmeter Wohnfläche war ein Anteil von jeweils 500 Euro zu erwerben. Über diesen Weg und andere Formen der Unterstützung sind 2,5 Millionen Euro zusammen gekommen, erläutert Ludwig Vogl-Bienek, von der Öffentlichkeits-Arbeitsgruppe. Das Projekt hat eine Investitionssumme von 13 Millionen Euro. Die Nutzungsentgelte der frei finanzierten Wohnungen – es gibt in dem Gebäude auch solche des ersten und zweiten Förderweges – sollen die ortsübliche Vergleichsmiete für Neubauwohnungen nicht übersteigen.

Vor wenigen Tagen hat „BeTrifft“ sein Baustellenfest gefeiert. Junge Familien mit kleinen Kindern und ältere Menschen waren in das Erdgeschoss des Rohbaus gekommen. Die Altersspanne der zukünftigen Bewohner reicht von wenigen Wochen bis über achtzig Jahre. Sie alle werden im kommenden Jahr einziehen. Bis dahin ist noch einiges zu tun. Der Rohbau muss fertig werden, Innenausbau und Haustechnik einschließlich Photovoltaik stehen an, dazu wollen Fassaden und Dächer begrünt werden sowie die Lastenfahrräder für den gemeinschaftlichen Fuhrpark beschafft sein. „Der Anspruch, sozial, solidarisch und ökologisch zusammen zu wohnen, zeichnet diese Projekte aus. Ein Aspekt, der bei Planungen in der Vergangenheit oft vernachlässigt wurde“, erklärt Stadtrat Josef. Auch aus diesem Grund verpflichtet die Kommune Entwickler wie etwa bei den Günthersburghöfen im Nordend mit städtebaulichen Verträgen, Platz für gemeinschaftliches Wohnen vorzusehen.

Die Bewohner wollen solidarisch und ökologisch zusammenleben
Die Bauphase hat das Projekt „Nest“ am Hilgenfeld in der Nähe des Bahnhofes Frankfurter Berg noch vor sich. Weitere Initiativen neben „Nest“ werden auf anderen Baufeldern des Gebietes ihre Vorhaben umsetzen können. Angefangen hatte alles mit drei Leuten, die ein gemeinsames Wohnprojekt auf die Beine stellen wollten, erläutert Yvonne Kretschmar, Vorsitzende des gleichnamigen Vereins. Dessen Konzept setzte sich im Vergabeverfahren durch. Die Gruppe kann sich über mangelnde Nachfrage nicht beschweren. Wer mitmachen will, kann auf mehreren Treffen feststellen, ob er in das Projekt passt und anders herum. Aktuell gebe es genug Interessenten, die an diesem „Kennenlernverfahren“ in Form eines Brunchs auf dem Alten Flugplatz in Bonames teilnehmen wollen. Wer jetzt noch mitmachen will, muss sich mit der Warteliste begnügen.

Geplant ist auf einem Teil des Neubaugebietes ein viergeschossiger Komplex mit 1300 Quadratmeter Bruttogrundfläche. Der Platz in unterschiedlichen Wohnungen soll für 18 Erwachsene und zehn Kinder reichen. „Der solidarische und ökologische Gedanke ist uns sehr wichtig“, erklärt die Vorsitzende. Mieterhöhungen soll es keine geben. Die Finanzierung des Vorhabens läuft über das Mietshäusersyndikat, einem zur gegenseitigen Unterstützung gegründeten Netzwerk selbstbestimmter Wohninitiativen. Auch architektonisch beschreitet das Projekt außergewöhnliche Wege. So sollen die Zugänge über sogenannte Pagodengänge erfolgen, die oberen Stockwerke werden über einen Treppenturm mit integriertem Aufzug erreicht. Dieses Verfahren spare Platz und schaffe kommunikative Räume, erläutert Kretschmar. Ganz oben ist ein Dachgarten und Flächen für Photovoltaik geplant. Der Keller soll genügend Fahrradstellplätze und eine kleine Werkstatt beherbergen. Ein Gemeinschaftsraum mit Angeboten wie etwa Jonglage und Kultur für Bewohner und Nachbarn gehört ebenfalls zum Konzept.

Zusammenleben mit Geflüchteten
Den Einzug in die neue Unterkunft hat Beatrice Scherzer vom Verein „Hestia – Gemeinschaftlich Wohnen in Harheim“ gerade hinter sich. Das Besondere bei diesem Projekt ist, dass die Hestia-Mitglieder mit Geflüchteten in einem Gebäudekomplex des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) zusammen wohnen. Mit der Organisation bestehen auch die Mietverträge für die 24 Zweizimmer-Unterkünfte. Einzelne baulich abgeschlossene Teile des u-förmigen, zweistöckigen Komplexes mit eigenen Zugängen gehören zu Hestia, andere beherbergen geflüchtete Familien. Hinzu kommen Flächen für die Mitarbeiter des DRK sowie ein Gemeinschaftsraum für beide Bewohnergruppen. 21 Erwachsene zwischen 30 und 90 Jahren sowie vier Kinder gehören aktuell zu Hestia. In der Flüchtlingsunterkunft sind es nach Angaben des städtischen Sozialdezernates 39 Erwachsene sowie 42 Kinder und Jugendliche. Da die Geflüchteten aufgrund der Wohnungsnot in Frankfurt auch nach ihrer Anerkennung nur schwer andere Unterkünfte finden, werden erfahrungsgemäß viele von ihnen mehrere Jahre dort bleiben.

Die Hestia-Bewohner bringen sich als ehrenamtliche Helfer ein, etwa mit Hausaufgabenhilfe für Kinder und Erwachsene, im Sprachcafé und beim Frauentreff. Hier sind deren Erfahrungen in der Kultur- und Flüchtlingsarbeit von Vorteil, über die viele verfügen. Auch unterstützen die Hestia-Mitglieder ihre Nachbarn nach Kräften. „Immer wieder sieht man, dass jemand von uns rüber geht und irgendetwas in der Wohnung hilft – und umgekehrt“, berichtet Scherzer. Das Zusammenleben funktioniere „sehr gut“, sagt sie. Die nachbarschaftliche Gemeinschaft sei intakt. Ein Erlebnis verdeutlicht das eindrucksvoll für sie: Neulich sei sie mit einem Korb selbst gepflückter Pfirsiche auf den Hof gekommen und hätte den Nachbarn davon angeboten. „Eine junge Eritreerin verschwand kurz in ihrer Wohnung und brachte mit Nelken gewürzten Schwarztee mit. Dann saßen wir mit mehreren zusammen und haben sehr nett geplaudert“, erinnert sie sich. „Stadtrendite hat viele Gesichter! Daher freue ich mich, dass wir deutlich Bewegung in dieses Thema bekommen haben“, betont Planungsdezernent Josef.

Wer mehr über gemeinschaftliches Wohnen erfahren will, kann sich unter https://www.gemeinschaftliches-wohnen.de/ informieren. Weitere Hinweise zum Mietshäuser-Syndikat finden sich unter https://www.syndikat.org/de/ im Internet. Eine Ausstellung vom 21. Oktober bis 1. November im Planungsdezernat, Kurt-Schumacher-Straße 10, informiert über die Konzeptvergabe. Am 29. Oktober vertieft dort eine Diskussionsveranstaltung das Thema. (ffm)