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Letzte Aktualisierung: 25.04.2024

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Wie die Natur Geschichte macht

Ein faszinierendes Buch über Weichen des Weltgeschehens

von Dr. Theodor Kissel

(04.11.2019)  Es ist nicht erst eine Erkenntnis der Moderne, dass der Mensch, seit er seinen genetischen Fingerabdruck auf unserem Planeten hinterlassen hat, in vielfältiger Weise Einfluss auf Umwelt und Natur nimmt. Umgekehrt ist es aber auch so, dass die Natur wiederholt in den Ablauf der Geschichte eingegriffen und die Weichen des Weltgeschehens oft auf dramatische Weise in eine andere Richtung gestellt hat.

Foto: Hirzel-Verlag
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Dass die Natur politischen Akteuren mitunter ein Schnippchen schlagen und zu einem wichtigen Entscheidungsfaktor in der Geschichte werden konnte, erzählt der studierte Biologe Sebastian Jutzi, vormaliger Chefredakteur der Zeitschrift nature und aktuell Leiter der Wissenschaftsredaktion des Schweizer Paul Scherrer Instituts, in anzuzeigendem Buch auf sehr eindringliche Weise. Unter »Natur« versteht der Autor etwa Klimaveränderungen und Naturkatastrophen, Krankheiten und Seuchen, die Folgen der Ausbeutung von Bodenschätzen und schlechtes Wetter.

Jutzi trägt zahlreiche Beispiele aus der Geschichte zusammen und nimmt den Leser mit auf eine spannende Reise zu den »naturhistorischen Wegmarken der Geschichte«. Er erzählt, wie 1803 das Gelbfiebervirus mehr als 15.000 Soldaten der französischen Expeditionsarmee auf der Karibikinsel Saint-Domingue hinwegraffte, was Napoleons Eroberungspläne zunichtemachte und schließlich zur Unabhängigkeit der Insel Haiti führte. Er legt dar, wie heftige Regenfälle 1529 dazu beitrugen, dass die Eroberung Wiens durch die Türken abgewendet werden konnte und Westeuropa vor einer Islamisierung bewahrten.

Auch Himmelserscheinungen konnten menschliche Entscheidungen beeinflussen. So etwa die Mondfinsternis im Jahr 413 v. Chr., die der athenische Feldherr Nikias als vermeintlich göttlichen Fingerzeig deutete. Der Flottenkommandant, der über das himmlische Zeichen ins Grübeln geriet, zögerte einen Monat lang, ehe er die attischen Trieren zur Eroberung der sizilischen Stadt Syrakus auslaufen ließ. Sein Zaudern gab den Verteidigern genügend Zeit, um ihre Stadt samt Hafenanlage auf die drohende Belagerung vorzubereiten. Das athenische Unternehmen vor Syrakus scheiterte, Nikias bezahlte seinen Fehler mit dem Tod.

Jutzi schildert ferner, wie ein gewaltiger Sonnensturm im Jahr 1859 die elektrische Telekommunikation auf weiten Teilen der Nordhalbkugel zweitweise komplett lahmlegte oder, wie ein holzfressender Meeresbewohner namens Teredo navalis, die Bohrmuschel, ganze Schiffsrümpfe wie ein Schweizer Käse durchlöcherte. Mit der Folge, dass der gefräßige Parasit in einem schleichenden Prozess vollbeladene Handelsschiffe auf den Meeresgrund beförderte und damit Handelsunternehmen an den Rand des Ruins trieb.

Mit dem gescheiterten Attentat des Schreiners Georg Elser auf Adolf Hitler am 8. November 1939 greift der Autor ein Beispiel aus der neueren Geschichte auf, das sich dieser Tage zum 80. Mal jährt. Dies sei, so Jutzi, nicht an der angeblichen Vorsehung des Diktators gescheitert, wie von diesem nachträglich kolportiert, sondern schlichtweg am nebligen Wetter, das Hitler zwang, seine Rede im Münchner Bürgerbräukeller früher als geplant zu beenden. Die Bombe explodierte pünktlich, verfehlte ihr Ziel aber um ganze 13 Minuten.

Diese und zahlreiche weitere Geschichten kann der Leser in dem ebenso spannend wie anschaulich geschriebenen Buch von Sebastian Jutzi nachlesen. Dessen besonderes Verdienst ist es, dass er nicht in einen Tunnelblick verfällt, sondern stets das große Ganze im Blick hat und den Makroeffekt der Einflussgröße Natur auf den Lauf der Geschichte beleuchtet. Eine Sichtweise, der gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um den globalen Klimawandel hohe Aktualität zukommt.

(Sebastian Jutzi: Als ein Virus Napoleon besiegte. Wie Natur Geschichte macht. Hirzel Verlag, Stuttgart 2019. 237 S., 19,80 €, ISBN 978 3 7776 2798 4)