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Letzte Aktualisierung: 28.03.2024

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Ukrainische Schüler – sind unsere Schulen wirklich gut vorbereitet?

von Helmut Poppe

(01.04.2022) Das hessische Kultusministerium sieht sich gut gewappnet, habe man doch aus den Migrationsbewegungen seit 2015 gut gelernt. Ist dem wirklich so? Eine aktuelle Bestandsaufnahme.

Bildergalerie
Russische Matrjoschka-Puppen
Foto: Wiki
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Eine Anlaufstelle - Staatliche Schulämter
Foto: screenshot
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Übersetzt auch Papiedokumente mit Handyfoto
Foto: Screenshot google translate
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Eine Recherche der Redaktion zeigt, dass wir es in Rhein-Main zur Zeit mit knapp 1.000 schulberechtigten ukrainischen Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Mit steigender Tendenz. Die zuständigen Behörden nennen hingegen für den Stichtag 25. März für ganz Hessen nur 1.300. Die Diskrepanz ergibt sich vermutlich aus nicht registrierten Kindern und Vermittlungsproblemen zwischen den einzelnen Stellen. Für ganz Deutschland beträgt die Zahl 20.205 nach amtlicher Auskunft, auf Hessen kommen somit unterdurchschnittlich viele Flüchtlinge, ein großer Anteil verteilt sich auf das Gebiet Berlin/Brandenburg und andere Ballungsräume. Insgesamt besteht bei diesen Zahlen Unschärfe, die Anzahl der Unterrichtsberechtigten liegt sehr wahrscheinlich wesentlich höher und dürfte in den nächsten Tagen und Wochen weiter steigen.

Auch wenn der hessische Kultusminister jüngst zuversichtlich auf die neuen Herausforderungen blickte, stellen sich doch weitere Fragen neben der alleinig nach dem Umfang auch die auf weitere zukommende Herausforderungen. Diese lauten: welche Art von Unterricht bieten, mit welchem Lehrmaterial arbeiten, wie Lehrkräfte gewinnen und wie den Raum – und Technikbedarf decken.

Spricht man mit Beratungsstellen, die von den Kommunen eingerichtet werden, sie nennen sich zum Beispiel „i-Punkt“ in einem Taunus-Städtchen, stößt man auf Übersetzerinnen und Übersetzer, die in einem direkten und ersten Kontakt zu ukrainischen Flüchtlingen stehen. Sie bieten schnelle und praktische Problemlösungen bei der Unterbringung und Orientierung. Nachgefragt, ob Jugendliche und Kinder gleich bei Kindergärten und Schulen landen oder dorthin verwiesen werden, hört man aus den Bildungsstätten, dass man darüber nachdenke sich aber doch reichlich überfordert fühle angesichts zahlreicher Corona-bedingter Krankmeldungen im Kollegium und wegen eines allgemeinen Personalmangels. Ein Blick auf die Internetseiten der nächsten Anlaufstellen, nämlich den Staatlichen Schulämtern in Frankfurt und in drei umliegenden Landkreisen zeigt, dass auf deren Start-Internetseiten nicht erkennbar Fragen ukrainischer Flüchtlinge mit Kindern beantwortet werden. Anders sieht es hingegen aus, wenn von der zentralen Homepage des Kultusministeriums auf die einzelnen Schulämter Hilfe geleitet wird: hier erfährt man Namen Telefonnummern und E-Mail-Adressen zu dem Thema „AZB“ was für Aufnahme- und Beratungszentrum steht.

Insgesamt drehen die Räder der Verwaltung langsam oder überhaupt nicht. Bis auf den Hochtaunuskreis und den Kreis Offenbach erhält ein pensionierter Lehrer, der hier namentlich nicht genannt werden möchte, keine Rückmeldung. Selbst telefonisch hinterlassene Anfragen mit einem konkreten Betreuungsangebot lösen keine Antwort aus. Hier zeigt sich wie in anderen Berufsbranchen auch, dass E-Mail-Anfragen in der Regel ins Leere laufen nämlich in den Spam-Ordner. Aufzeichnungen von Nachrichten per Anrufbeantworter sind nicht möglich, da es keine Möglichkeit dafür gibt. Erschwerend kommt bei der Kontaktaufnahme hinzu, dass die ‚Ansprechzeiten‘ knapp bemessen sind. „Da kann man sich die Frage stellen, ob der Geist der Serviceerbringung in manchen Schulämtern angekommen ist“, so der erwähnte Lehrer.

Schulleitungen denken bei der Planung des Unterrichts für geflüchtete Kinder und Jugendliche in Größen wie Stellenzuweisungen, Stundenverpflichtungen und Personalbedarf. Eine Kerngröße lautet hierbei: 30 Wochenstunden Unterricht sind Pflicht, 22 Stunden für Intensivklassen, der Rest ist weiter zu verteilen. Laut Auskunft des Staatlichen Schulamtes in Frankfurt gibt es in unserer Stadt 82 sogenannte Intensivklassen in Grund- und weiterführenden Schulen. In den nächsten Tagen sollen weitere acht hinzukommen. Diese Klassen dürfen maximal sechszehn Schüler umfassen. Ziel von Intensivklassen ist, grundlegende Kenntnisse in der Zweitsprache Deutsch zu vermitteln, damit Schüler bald in eine Regelklasse integriert werden können. Dass dies eine ambitionierte Aufgabe darstellt, wird klar, wenn man die Herausforderung sieht, Kinder unterschiedlicher Nationen, Altersstufen, Alphabetisierungsstufen und Bildungsständen zu unterrichten. Kannte man früher Dorfschulen in denen in einer Gruppe Unterricht für alle geleistet wurde, sieht man in modernen Zeiten nun selbst in einer Großstadt das Wiedererwachen dieser alten Schulform. Den Unterrichtenden ist deshalb großer Respekt zu zollen. Eine ethische und zugleich praktische Fragestellung ist, ob aufgrund völlig anderer Bildungswege von Flüchtlingskindern diese in gemeinsamen Kursen unterrichtet werden oder einige eine spezielle Behandlung erhalten sollen. Konkret lautet eine Forderung aus einem ukrainischen Ministerium, Schüler aus ihrer Nation gesondert zu unterrichten. In der Tat wird dieser Weg in einigen Schulen gegangen wie auch im Vordertaunus.

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) empfiehlt für geflüchtete Kinder mit dem Ziel einer Integration Schulen mit zweisprachigem Unterricht. Der hessische Kultusminister meint wohl damit bereits gemachte Lerneffekte nutzen zu können aus der nahen Vergangenheit. Außer Acht lässt er hierbei, dass es sich bei ukrainischen Geflüchteten um Menschen anderer kultureller Herkunft handelt, die aus bestehenden funktionalen Schulsystemen kommen, mit einem anderen Schriftbild und demografischer Zusammensetzung. Eine Schwerpunktlegung auf den Sprachenerwerb Deutsch dürfte für die nächsten zwei oder drei Monate sekundär sein. Er müsste ja auch erst einmal organisiert werden. Wobei es nie schlecht sein kann, eine weitere Sprache zu lernen. Kommt das aber nicht oft sozusagen auch von alleine?

Konkrete Hilfe leistet bei der Planung und Durchführung des Unterrichts eine Initiative aus Freiburg, die ein sogenanntes Online-Barcamp veranstaltet https://ukraine-hilfe-bildung.de/. Hier bieten verschiedene Anbieter Lösungen für anstehende Probleme und Aufgabenstellungen in Schulen im Rahmen der Flüchtlingsversorgung. Auch wenn solche institutionellen Stellen häufig ihre eigene Agenda – nämlich auch eine Bestätigung ihrer Existenzberechtigung - verfolgen und Lehrerinnen und Lehrer dort kaum anzutreffen sind, werden zahlreiche Tipps gegeben. Bemerkenswerterweise arbeiten diese Unterrichtsverfahren durchgehend mit digitalen Werkzeugen. Unterstützer des badischen Netzwerkes sind unter anderem bedeutende Stiftungen wie die der Deutschen Telekom, der Robert Bosch-Gruppe, von Bertelsmann sowie mit Beistand der Zeitschrift ct. Insgesamt bringen nach Meinung von Experten die dort zur Verfügung gestellten Angebote für den Unterricht von Migranten allerdings nur Insel- oder Teillösungen. Bei den vielen Aufgabenstellungen, die sich aus den verschiedenen Unterrichtsfächern, dem Alter, dem Wissensstand und der Herkunft von geflüchteten Schülern ergeben, müssten hunderte Unterrichtslektionen erstellt werden und in Einsatz in Deutschland gebracht werden. Manche Schulleiter schauen da auf etwaige Angebote von TV- Radiosendern und anderen Medienanbietern.

Bemerkenswerter Weise hat die Ukraine einen Großteil seiner schulischen Lehrwerke bereits digitalisiert, diese sind online abrufbar. Das Manko ist eine fehlende Übersetzung in deutscher Sprache, wobei es hierfür digitale Hilfsmittel gibt zum Beispiel mit dem allgegenwärtigen google-Übersetzer, der auch Textdokumente abfotografiert in Deutsch transkribiert (siehe Beitragsbild). In unseren Landen sieht es mit der Bereitstellung von digitalem Lehrmaterial leider immer noch schlecht aus. Lehrwerke werden bestenfalls als PDF bereitgestellt. Andere Lern- und Lehrangebote sind Mosaiksteine, sie rufen im Nutzer das Bild einer Matrjoschka-Puppe hervor, geht man auf einen Link, öffnet sich der nächste, um dann – große Überraschung – ein nicht unbedingt passendes Lernangebot zu zeigen.

Der erwähnte Lehrer kommt zu dem Urteil: „An diesem Beispiel zeigt sich wieder einmal, dass der digitale Wandel im Kultusministerium immer noch nicht angekommen ist.“ Eine Fragestellung, ob die Flüchtlingskinder im deutschen Unterricht schnell Deutsch lernen sollen, sei erst einmal zweitrangig. Auch wenn der Erwerb einer Sprache immer gut ist, sei ja noch nicht klar, wie lange der Krieg andauere und wie viele Flüchtlinge wann und in welchem Ausmaß zurückkehren wollen. „Es müssen jetzt rasche und übertragbare Lösungen gefunden werden für einen Unterricht, der es ukrainischen Schülern erlaubt, vormittags in einer Präsenzphase am deutschsprachigen Regel-Unterricht eine oder zwei Stunden teilzunehmen.“ Um dann - als erstmal beste Lösung -nachmittags in einem sogenannten Hybridmodell bestehend aus Präsenzunterricht und digital gestützten Lernformen Unterricht beschult zu werden. Digitale Verfahren nämlich ‚fertige‘ interaktive Lernprogramme aber auch Videounterricht mit ukrainisch sprechenden Lehrern stellten als zweites Modul neben dem kurzen Vormittagsunterricht die momentan schnellste und wirksamste Unterrichtsform dar in deutschen Schulen für Kinder und Jugendliche ab etwa 10 Jahren. Es wird von Lehrkräften vermutet, dass ukrainische Mütter diese Unterrichtsform in Eigeninitiative bereits in größerem Umfang wahrnehmen.

Man könnte jetzt zuversichtlich sein, da ja bald die Osterferien vor der Tür stehen. Es wäre möglich, in diesem Zeitraum Testprojekte zu starten im Rhein-Main-Gebiet und zu prüfen, welche Methoden für welche Altersgruppen, Schulformen und Fächer einsetzbar wären. Ein Hindernis dürfte allerdings sein, dass auf deutsche Lehrkräfte nicht zugegriffen werden kann, diese befinden sich dann nämlich in der ‚unterrichtsfreien Zeit‘ (nicht Ferien). Was Quereinsteiger oder pensionierte Lehrer betrifft, ist erstaunlich, dass es keine Online Anlaufstellen der staatlichen Schulämter gibt, auf der sich wie in einer Online-Jobbörse, anbietende Personen eintragen könnten. Unser Lehrer dazu „Auch mit diesem kleinen Beispiel zeigt sich, wie wenig der digitale Wandel trotz aller positiven Bekundungen aus Kultusministerien Einzug gefunden hat im deutschen Schulsystem.“

Er legt Wert darauf, kein „Ku-Mi-Bashing“ betreiben zu wollen, vermisst aber weiterhin digitale Kompetenz in den Ämtern, Organisationswillen und eine Zusammenarbeit mit Instanzen außerhalb der bestehenden offensichtlich langsamen Strukturen, die als Schulbehörden nicht unbedingt geeignete Vorgehensweisen einschlagen.