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Letzte Aktualisierung: 24.04.2024

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Senioren gestalten Unterricht in der Montessori-Schule

Experiment im Fach Gesellschaftslehre

von Ingeborg Fischer

(08.04.2021) Die Lehrerin Isabell Nürnberger von der Mühlheimer Montessori-Schule wagte mit dem Geschichtsverein ein Experiment als Unterrichtseinheit im Fach Gesellschaftslehre.

Bildergalerie
Zeitzeugen im Unterricht waren die Geschichtsvereinsmitglieder Ingeborg Fischer, Karl-Heinz Stier, Gerda Brinkmann und Klaus Roth
Foto: Geschichtsverein Mühlheim
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Selbst nach dem Unterricht stellten die Schüler noch viele Fragen
Foto: Geschichtsverein Mühlheim
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Ihre Idee: Besitzt  der Verein Zeitzeugen, die über Begebenheiten in der Kindheit, Schulzeit oder Berufsleben, über Wohn- und Versorgungssituation im und nach dem Zweiten Weltkrieg authentisch aus lebendigem Miterleben erzählen und berichten könnten?  

Vorsitzender Karl-Heinz Stier, Wegbereiter vieler ErzählCafés mit Mühlheimer Bürgern, war von der Idee sofort begeistert und fand in Gerda Brinkmann (83 Jahre), Klaus Roth (86 Jahre) und Ingeborg Fischer (78 Jahre) kenntnisreiche Mitstreiter. Zuhörer und Mit-Diskutanten waren in der Aula 21 Schülerinnen und Schüler im Alter von 14 bis 16 Jahren.

„Zeit ist ein Mosaik aus vielen prägenden Erinnerungen“, antwortete Gerda Brinkmann auf die Eingangsfrage von Karl-Heinz Stier, was aus dieser Zeit tief im Gedächtnis geblieben sei. Und dann berichtet sie, wie entsetzt sie als Kind war, als im elterlichen Wohnzimmer amerikanische Soldaten ihre Füße, die in schmutzigen Stiefeln steckten, auf den Tisch gelegt hatten. Auch die fremde Sprache und dass einige der Männer eine dunkle Hautfarbe hatten hat sie damals sehr verwirrt. Klaus Roth hat bessere Erinnerungen, nämlich an die einmarschierenden Amerikaner, die Chewing Gum und Schokolade an die am Straßenrand von Lämmerspiel stehenden Kinder verteilten. Ingeborg Fischer war zu Ende des Krieges 1945 erst 3 Jahre. An die Einschulung ihres Bruders 1946 ohne Schultüte und Schiefertafel, aber an eine unter großen Mühen ergatterten Packung Leibnitz-Butterkekse für ihn, daran erinnert sie sich gut. Und daran, dass die ABC-Schützen ihre ersten Schreibversuche auf glattgebügelten Mehl- und Zuckertüten machen mussten.

Jeder der vier Zeitzeugen hatte auch Erinnerungsstücke dabei  aus dieser Zeit,  Karl-Heinz Stier seinen abgeliebten – von der Mutter selbstgenähten – Teddybär, Ingeborg Fischer ein Poesiealbum  von 1952.  Gerda Brinkmann hatte ihren Griffelkasten, ein selbstgebasteltes Album zur Erstkommunion und ein Henkeltöpfchen vor sich stehen, das für die Schulspeisung mitgebracht werden musste.  Alle vier erzählten von der „Quäker-Speise“,  für die meisten Kinder und deren Familien eine große Hilfe  gegen den Hunger und die Mangelernährung.   

Was hatte man zum Essen? Diese Frage beschäftigte die gespannt zuhörenden Schülerinnen und Schüler sehr. Karl-Heinz Stier, Klaus Roth und Gerda Brinkmann, wohnhaft in Dietesheim, Lämmerspiel und Mühlheim, hatten weniger Sorgen damit. In Gärten und Vorgärten der Häuser konnten Gemüse und Kartoffeln angepflanzt werden, Hühner und sogar Schweinehaltung war möglich. Ingeborg Fischer dagegen, die in Offenbach lebte, berichtete von Trockenkarotten, Trockenkartoffeln, Brennnesselgemüse und Maisgries. Und von einem genehmigten Kaninchenstall im Hinterhof des 8-Familien-Wohnhauses oder den zugeteilten Lebensmittelkarten. Klaus Roth sind die Hamsterfahrten aufs Land in Erinnerung geblieben, um Lebensmittel zu erbetteln oder zu tauschen. „Wenn man Pech hatte, wurde einem bei Kontrollen alles wieder abgenommen.“

Das  Interesse der Schüler war groß, denn in unserer Lebenswelt voll Überfluss ist das alles kaum vorstellbar. Die jungen Menschen fragten nach, wie die Wohnsituationen waren. Plumpsklo hinter dem Haus, kein Bad sondern  Zinkbadewanne in der Küche. Man lebte sehr einfach und beengt. Als die Flüchtlingsströme aus dem Osten ankamen, mussten diese Menschen aufgenommen werden und wurden den hier lebenden Familien zugeteilt. 

Unterschiedlich beurteilten die Befragten, ob  die Zeit des Nationalsozialismus und der 2. Weltkrieg im Geschichtsunterricht aufgearbeitet wurde. Die meisten Lehrer haben sich wohl - aus welchen Gründen auch immer – davor gescheut.  

Nach Kriegsende gab es keine jüdischen Menschen in Mühlheim mehr. Die meisten waren ermordet worden. Wenige konnten noch rechtzeitig emigrieren. Die Synagoge in Mühlheim wurde zweckentfremdet und später abgerissen. Hier hat man auf Initiative von Karl-Heinz Stier eine Gedenktafel zur Erinnerung angebracht. Stier informierte die jungen Menschen auch, dass die Stadt vor einigen Jahren Nachkommen und überlebende jüdische Mitbürger nach Mühlheim eingeladen hat. Einige hatten die Einladung angenommen und wanderten durch die Straßen und Gassen ihrer Kindheit.

„Viel zu schnell ist diese besondere Geschichtsstunde vergangen“, sagte Unterrichtsleiterin Isabell Nürnberger. Doch selbst der offizielle Abschluss der Veranstaltung hielt die Schüler und Schülerinnen nicht davon ab, noch weiter mit den Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen. Mit den geschilderten Erinnerungen erreichten sie die jungen Leute, wie es durch kein Geschichtsbuch möglich ist. Oder, wie es ein Schüler formulierte: „Das ist echt krass,  Mann! Da schätzt man doch mega das, was wir heutzutage haben. Da weiß man auch unsere heutige Schulbildung zu schätzen!“