Oberbürgermeister Peter Feldmann: ‚Es sind noch keine hundert Jahre vergangen‘
Paulskirche Frankfurt: Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus des Hessischen Landtags, der Landesregierung, des Landeswohlfahrtsverbandes und der kommunalen Spitzenverbände in Hessen in Kooperation mit der Stadt Frankfurt.
In seiner Begrüßungsansprache erinnerte Oberbürgermeister Peter Feldmann an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Jahren die Außenlager von Auschwitz erreichte, waren die Soldaten in keiner Weise auf den Anblick gefasst, der sich ihnen bieten sollte. Aus der Ferne hatte man Industrieanlagen ausgemacht, Baracken, Arbeitslager, einen kriegswichtigen Verkehrsknotenpunkt, den es einzunehmen galt. Natürlich, man hatte von den Lagern der Nazis gehört, von der Grausamkeit, von Massenmord. Dennoch: Auf das Kommende waren die Soldaten nicht vorbereitet. Völlig entkräftete, ausgezehrte Menschen fanden sie vor, Frauen, Kinder, halb erfroren, teilnahmslos, in Lumpen gehüllt. Dazu über eine Millionen Kleider, rund 50.000 Paar Schuhe und sieben Tonnen Menschenhaar. An die 1,1 Millionen Männer, Frauen und Kinder – Jüdinnen und Juden, Polinnen und Polen, Sinti und Roma, Homosexuelle und sowjetische Kriegsgefangene – die die Nationalsozialisten zwischen 1941 und 1945 allein in Auschwitz töteten, an die Abermillionen, die in den anderen Lagern ums Leben kamen, gedenkt Deutschland am Jahrestag der Befreiung.
1996 wurde der 27. Januar vom damaligen Bundespräsident Roman Herzog als gesetzlich verankerter Gedenktag eingeführt. Die zentrale Veranstaltung des Hessischen Städtetages fand dieses Jahr in der Frankfurter Paulskirche statt.
„Die Gräueltaten der Nationalsozialisten liegen noch keine hundert Jahre zurück. Das, was wir heute Erinnerungspolitik nennen, hat gerade erst begonnen“, so der Oberbürgermeister: „Unser künftiges Gedenken wird vor die Frage gestellt, wie man sich aktiv erinnert, wenn man keine Augenzeugen mehr befragen kann. Schon jetzt gibt es Initiativen, die Erinnerung der Zeitzeugen aufzubewahren. Schon jetzt spüren wir aber auch, wie der Respekt vor der Geschichte schwindet. Eine neue Generation von Populisten und Rechtsradikalen lässt die letzten Hemmungen schwinden, auch und gerade in geschichtspolitischer Hinsicht. Sie kündigen das wenige auf, was hier erreicht wurde. Wir erleben offene Provokationen in Gedenkstätten. Wir erleben, wie die Shoah relativiert wird. Wir erleben aber auch ermutigende Signale. Signale aus der jungen Generation, die mit einer großen Aufmerksamkeit und großen Sensibilität sich der Geschichte annimmt und die notwendige Anklage weiterführt. Es sind noch keine hundert Jahre vergangen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, sie hat tatsächlich gerade erst erneut begonnen: Indem wir 'Nein' sagen zu Antisemitismus, Hass und dem widersinnigen Gedanken an einen 'Schlussstrich'. Indem wir beherzigen und dafür eintreten, dass jene beiden Worte, in denen sich die Lehre aus dem Vergangenen bündelt, Richtschnur unseres Handelns bleibt: Nie wieder!"
Prof. Salomon Korn, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, ging in seiner Gedenkrede auf den Abschied der letzten Zeitzeugen und deren Vermächtnis ein. Korn ließ seine Zuhörer teilhaben an den entsetzlichen Traumata der Überlebenden des nationalsozialistischen Menschheitsverbrechens: „Für die Überlebenden und ihre Nachkommen gibt es keinen endgültigen Abschied von Auschwitz. Der 27. Januar ist für sie ein symbolisches Datum. Wer überlebt hat, weiß, dass er sein Überleben nur dem Zufall zu verdanken hat. Viele Holocaust-Überlebende litten und leiden zeitlebens unter ihrer Rettung. Sie machen sich Vorwürfe und fühlen Scham, das eigene Überleben sei nur auf Kosten schwächerer Mithäftlinge möglich gewesen“, sagte Korn. In seiner Rede mit dem Titel „Abschied“ zitierte Korn den letzten Wunsch des deutsch-tschechischen Filmregisseurs Thomas Fantl. Fantl hatte 64 Angehörige in den Konzentrationslagern verloren, seinen eigenen Erinnerungen konnte er nicht entfliehen. So wünschte er sich, man möge seine Asche in Auschwitz verstreuen – „dort bin ich gestorben“. „Familie, Liebe, Beruf – all das sind Ablenkungen. Doch im Alter, wenn die Tage lang werden und viel Zeit zum Erinnern lassen, taucht alles wieder auf. Taucht auf, schiebt sich an die Oberfläche wie die menschlichen Knochenreste im Aschesand von Ausschwitz“, mahnte Korn.
Uwe Becker, Bürgermeister und Präsident des Hessischen Städtetags, sagte in der Paulskirche: „74 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz müssen wir auch bei uns in Deutschland leider eine Zunahme des Antisemitismus feststellen, der sich aus den Hinterzimmern längst wieder in die Mitte der Gesellschaft traut und heute auf Straßen und Plätzen wahrzunehmen ist. Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit und daher nicht zuvorderst die Aufgabe der jüdischen Gemeinschaft, die Ziel und Opfer von Judenhass ist. Judenfeindlichkeit ist ein gesellschaftliches Gift, welches das Miteinander zerstört. Die Buntheit und Vielfalt des Antisemitismus reicht heute vom rechtsradikalen Judenhass über blinde Israelfeindlichkeit, die den Umweg über den Antizionismus wählt und beim Antisemitismus ankommt, bis hin zu jener Judenfeindlichkeit, die sich aus Kulturkreisen des Nahen und Mittleren Ostens speist, wo schon heranwachsende Kinder mit dem Feindbild des bösen Juden, der in der Regel auch gleichzeitig Israeli ist, erzogen werden.“
Der Präsident des Hessischen Landtags, Boris Rhein, erinnerte in seiner Rede an die schrecklichen historischen Ereignisse und mahnte die daraus entstehenden Verpflichtungen auch für zukünftige Generationen an: „Wir haben in Deutschland die historische Verpflichtung, uns immer wieder mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinanderzusetzen und daran zu erinnern. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist dabei ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur. Das gilt heute umso mehr, da Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft zunehmen, auch weil die Vergangenheit in Vergessenheit gerät. Wir müssen diese Entwicklungen genau beobachten und alles nur Erdenkliche tun, um dem entgegenzuwirken. Und wie, wenn nicht mit Gedenkveranstaltungen, wollen wir die Erinnerung an das Leid der Millionen Menschen durch die Nationalsozialisten aufrechterhalten? Wie, wenn nicht mit Angeboten zur historischen und politischen Bildung wollen wir den heutigen Entwicklungen entgegentreten? Nur so können wir das Vergessen der nachfolgenden Generationen verhindern“, betonte der Landtagspräsident. (ffm)