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Letzte Aktualisierung: 28.03.2024

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Nur noch eine Woche `Die Natur der Natur. Fukushima Project`im Museum Angewandte Kunst

Letzte öffentliche Führung zur Ausstellung am 27. November, 15 Uhr

von Ilse Romahn

(22.11.2022) Auf den ersten Blick wirken die Fotografien von Norbert Schoerner wie Studien von einzelnen Kiefern, die sich vor einer kargen, bergigen Landschaft aus wogenden Gipfeln und dunklen Himmelsformationen erheben. Bei näherer Betrachtung fällt allerdings auf, dass etwas ungewöhnlich ist. Der Stamm der Kiefer ist nicht in der Erde verwurzelt, sondern mündet in ein Gefäß, das an die typischen Keramikschalen erinnert, in denen Bonsais gezogen werden.

Die Natur der Natur. Fukushima Project
Foto: Günzel/Rademacher / Museum Angewandte Kunst
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Die vermeintliche Logik des Bildes – der zufolge Vordergrund und Hintergrund einen zusammenhängenden Raum beschreiben, eine durchgängige Realität – wird gebrochen.

Die Bonsais auf Norbert Schoerners Fotografien sind aus der Aufzucht der Familie Abe, die in der Bergregion Azuma in der Nähe von Fukushima lebt. Seit drei Generationen ziehen diese Meister – Kurakichi, sein Sohn Kenichi und sein Enkelsohn Daiki – Bonsais aus Samen. Dabei handelt es sich ausschließlich um Samen von Baumarten, die im Schatten des Vulkanberges Azuma-Kofuji zu finden sind. Für seine Fotografien stieg Schoerner auf den Berg und nahm eine Reihe von Landschaftsbildern auf. Davon ließ er Abzüge so großformatig anfertigen, dass wenn die Bonsais der Familie Abe davor aufgestellt und im richtigen Licht fotografiert wurden, die Miniaturkiefern aussahen wie ausgewachsene Bäume.

Die Tatsache, dass er die Bonsais in konstruierten dioramahaften Umgebungen fotografiert, lässt vermuten, der Künstler würde die Bonsais an ihren Ursprungsort zurückbringen, ihnen ermöglichen, ihr volles Wachstumspotenzial zu erreichen. Statt des Beherrschens der Kräfte des Baumes scheint hier ihre Befreiung auf, was im Einklang mit einer romantischen Naturbeziehung stehen würde. Aus diesem Grund hängt im ersten Raum der Ausstellung und damit als Ausgangspunkt der Schau eine Fotografie von Caspar David Friedrichs Weidengebüsch bei tiefstehender Sonne (1832/1835), das Norbert Schoerner im Deutschen Romantik-Museum in Frankfurt fotografierte. An Caspar David Friedrichs Werken lassen sich die zentralen Begriffe der Romantik wie eine subjektive Perspektive oder das Hell-Dunkel-Phänomen festmachen. Subjektivität und Individualität, das Ausdrücken von Empfindungen und das Ergründen der Tiefen des menschlichen Geistes spielen in der Romantik die zentrale Rolle. Die perspektivische Konstruktion des Bildraums bietet einen Ausblick auf einen Imaginationsraum außerhalb des Bildes.

Je weiter der Blick der Betrachter durch die Ausstellung wandert, desto unmöglicher ist es, angesichts der Auswirkungen des nuklearen Desasters des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi am 11. März 2011 auf die Ökologie der Region, diese Werke unabhängig von dieser Katastrophe zu betrachten. Die Besucher der Ausstellung werden unmittelbar mit den zerstörerischen Folgen dieses Ereignisses und den Versuchen der Menschheit, die Natur für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und zu beherrschen, konfrontiert.

Norbert Schoerner (*1966) ist ein deutscher Fotograf und Filmemacher, der seit 1989 in seiner Wahlheimat London lebt. In den späten 1980er Jahren fotografierte er zunächst für das Magazin The Face. Neben Editorials für große Publikationen wie die Vogue, das NY Times Magazine oder die iD folgten Kampagnen für Modemarken wie Yoji Yamamoto, Prada, Shiseido oder Comme des Garçons. Als einer der ersten Fotografen überhaupt experimentierte Schoerner bereits in den 1990er Jahren mit den Möglichkeiten digitaler Postproduktion und der daraus entstehenden Darstellungsmöglichkeiten alternativer Wirklichkeiten.

Seine Fotografien sind Erzählungen, die von kinematografischer Qualität gekennzeichnet sind. 2014 debütierte Schoerner mit seinem ersten narrativen Kurzfilm MADE auf den internationalen Filmfestspielen von Cannes. 1992 reiste Norbert Schoerner erstmals nach Japan und besucht das Land seitdem regelmäßig, manchmal für mehrere Monate. Sein Interesse gilt dem Verständnis japanischer Schönheitsempfindungen, die sich mit westlichem Vokabular weder vollkommen beschreiben noch begreifen lassen.

Kurator: Prof. Matthias Wagner K

Im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König ist ein Katalog zur Ausstellung mit Beiträgen von Tom Morton, Shinchi Nakazawa, Julia Psilitelis und Matthias Wagner K erschienen. Der Katalog ist für 29 Euro an der Museumskasse zu erwerben.

Museum Angewandte Kunst, Schaumainkai 17, 60594 Frankfurt  www.museumangewandtekunst.de