Netzfund – vor 25 Jahren startet Wahlstreet, der erste Online-Prognosemarkt für politische Wahlen

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Das Projekt erlaubte es, dass sich politisch interessierte Anleger vor Wahlen mit fiktiven Aktien von Parteien eindecken und auf spätere Wahlergebnisse spekulieren konnten. Ziel der Macher war es, einen Prognosemarkt einzuführen, auf dem sich Wahlergebnisse so genau wie möglich voraussagen lassen. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass mit Plattformen wie der „Wahlstreet“ oft genauere Vorhersagen getroffen werden können als mit Expertenmeinungen und Ergebnissen von professionellen Meinungsumfragen.
Die Entstehungsgeschichte des ersten deutschen Prognosemarktes “Wahlstreet”
Das Konzept von Prognosemärkten beruht auf den Annahmen des anerkannten österreichischen Ökonoms und Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek. Dieser formulierte schon 1945 die These, dass die Märkte auch bei einer asymmetrischen und unvollständigen Informations- und Datenbasis zu optimalen Ergebnissen führen.
Der schrittweise Informationsgewinn führt demnach dazu, dass die Märkte anhand der Preise zu jedem Zeitpunkt die genauesten Prognosen abgeben. Im Fokus stehen dabei finanzielle Anreize, die die Teilnehmer dazu veranlassen, den Markt schrittweise mit Informationen zu befüllen und Verzerrungen zu reduzieren beziehungsweise zu verhindern. Es wird dabei davon ausgegangen, dass Börsenhändler die Märkte genauer beobachten und analysieren als Meinungsforscher und auf politische Ereignisse sofort reagieren.
Der erste aufsehenerregende Erfolg von Prognosemärkten
Wie in diesem Artikel nachzulesen ist, wurden diese Erkenntnisse zuerst von Professoren aus Iowa genutzt, die bei der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl von 1988 mit 53,2 Prozent exakt den Stimmenanteil des späteren Präsidenten George Bush prognostizierten.
1998 – Wahlstreet wurde entwickelt
Basierend auf diesen Ergebnissen wurde in Zusammenarbeit des Nachrichtenmagazins “Die Zeit”, des Berliner “Tagesspiegels” und dem Oldenburger IT-Unternehmen ECCE TERRAM eine Machbarkeitsstudie ins Leben gerufen, die als webbasierte Lösung für Prognose-Aktienmärkte veröffentlicht wurde. Konzipiert wurde das Projekt für die Landtagswahl von 1998 in Niedersachsen. Die Weiterentwicklung für die Bundestagswahl 1998 wurde der Öffentlichkeit als Projekt “Wahlstreet” bekannt gegeben.
Schon im selben Jahr erzielte Wahlstreet in Deutschland erstmals bemerkenswerte Ergebnisse. Der Top-Spekulant Uly Foerster konnte mit der überraschenden Vorhersage von 12,9 Prozent für die rechtsextreme Deutsche Volksunion bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt seinen Einsatz verdreifachen. Im Laufe der Zeit traten mit dem "Handelsblatt" und der “Neuen Osnabrücker Zeitung” weitere Partner dem Projekt bei und die Wahlstreet wurde Teil vieler Analysen und wissenschaftlichen Arbeiten.
Bis zu 50 Euro auf Parteien setzen.
In seiner Kernfunktion als Instrument zur Vorhersage von Wahlergebnissen konnten die Anwender fiktive Aktien von Parteien kaufen, deren Wert sich in einer Preisspanne von fünf bis fünfzig Euro bewegte. Je erfolgreicher die Nachfrage ausfiel, desto höher stiegen die Prognosewerte der betreffenden Parteien. Im Laufe der Existenz von Wahlstreet fielen die Ergebnisse in der Mehrheit der Fälle besser aus als die der großen Prognose-Institute.
Bis 2009 kam Wahlstreet bei mehreren Landes- und Bundestagswahlen zum Einsatz. Ab 2005 wurde nicht mehr nur auf die Ergebnisse von Parteien spekuliert. Es war nun auch möglich, auf den Kanzler und mögliche Regierungskoalitionen zu wetten. Im Jahre 2006 setzte das Handelsblatt die Prognose-Plattform bei der Fußball-WM ein. 2009 wurde das Projekt dann eingestellt.
Wie können Prognosemärkte wie Wahlstreet außerhalb des Politikbetriebs eingesetzt werden?
Die Anwendungsgebiete für Prognosemärkte wie Wahlstreet sind vielfältiger Natur. Sie wurden von Anbietern diverser Branchen für Vorhersagen aller Art genutzt. So stützten sich unter anderem SAT.1, die Financial Times Deutschland und T-Online auf die erzielten Ergebnisse.
Die Unternehmen wendeten Prognosemärkte an, um beispielsweise mittel- bis langfristige Anforderungen ihres Bedarfs in Erfahrung zu bringen. Sportbörsen und Marketingabteilungen arbeiteten mit dem Datenmaterial, welches ein Prognosemarkt zur Verfügung stellt. Sehr effektiv wurden Prognosemärkte zudem in der Finanzbranche eingesetzt, um Zinsentwicklungen und Veränderungen der Wechselkurse vorherzusagen.
Wahlstreet: Wie funktioniert ein Online-Prognosemarkt?
Wettmärkte eignen sich vornehmlich dazu, um in elektronische Plattformen integriert zu werden. Sie besitzen einen eigenen Mechanismus zur Preisfeststellung beziehungsweise zur Quotenermittlung und existieren in Form von virtuellen Wertpapiermärkten oder als eigenständige Online-Börsen. In ihrer Funktion treten sie in Konkurrenz zu anderen Prognoseinstrumenten, die Anleger bei ihrer Entscheidungsfindung unterstützen.
Immer wieder tritt die Frage auf, wieso Prognosemärkte so genaue Ergebnisse generieren. Experten erklären diesen Umstand mit dem angewandten Anreizsystem, das in der Fachsprache unter dem Schlagwort "Gamification” firmiert. Als theoretischer Unterbau dient dabei die weiter oben angesprochene Hypothese von Hayek, dass der Wettbewerb auch asymmetrische und unvollständige Datenbestände am besten zusammenfasst.
Anleger, die Vermögenswerte billig kaufen und teuer verkaufen, erzielen eine Verbesserung der Vorhersage und werden entweder mit realen oder virtuellen Geldwerten belohnt. Beteiligte, die ökonomisch suboptimal handeln und Anlageprodukte teuer erwerben und günstig abgeben, verschlechtern die Prognose und spüren diesen Vorgang anhand ihres Depots, Wallets oder Geldbeutels.
Die Wahlstreet war ein spannendes Projekt, das vor 25 Jahren versucht hat, die Meinungsforschung zu revolutionieren.