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Letzte Aktualisierung: 19.04.2024

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Kara Walker-Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt

„A Black Hole is Everything a Star Longs to Be“

von Schirn

(19.10.2021) Kara Walker (*1969) zählt zu den profiliertesten US-amerikanischen Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart. Weltweite Bekanntheit erlangte sie mit ihren wandfüllenden Scherenschnitten und raumgreifenden Skulpturen, die provokativ und eindrücklich Rassismus, Sexismus und andere Formen der Unterdrückung und Gewalt behandeln.

Kara Walker, Ausstellungsansicht
Foto: Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2021 Foto: Norbert Miguletz
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Für die Ausstellung „A Black Hole is Everything a Star Longs to Be“ öffnet die Künstlerin erstmals ihr umfassendes zeichnerisches Archiv und zeigt in der Schirn Kunsthalle Frankfurt bis 16. Januar 2022 rund 650 Arbeiten der letzten 28 Jahre sowie eine Auswahl ihrer Filme. Ihr Archiv umfasst Zeichnungen im weitesten Sinne: Aquarelle, Skizzen, Studien, Collagen, Scherenschnitte, Schriftblätter, tagebuchartige Notizen, ebenso Gefundenes wie Werbematerial und Zeitungsausschnitte. Arbeiten auf Papier sind zentral für Walkers künstlerische Praxis. Virtuos bedient sich die Künstlerin verschiedenster Stile, Referenzen und Techniken – von Kohle über Tusche bis hin zu Pastell- und Kreidezeichnungen. Ihre intimen Skizzen und Notizen sind Austragungsort grafischer Denkprozesse und zugleich Mittel der Satire und Karikatur, der Imagination und Subversion. Unerbittlich rüttelt Walker an Geschichtsbildern und befragt in radikaler Offenheit und drastischer Bildsprache rassistische Machtstrukturen, Stereotype und Geschlechterrollen. Sie bezieht sich dabei immer wieder auf historische wie aktuelle Ereignisse und Themen – vom transatlantischen Menschenhandel bis zur Präsidentschaft von Barack Obama. Die Künstlerin macht bis heute anhaltende Konflikte und Traumata sichtbar und verhandelt schonungslos die Entstehung der kollektiven US-amerikanischen sowie der eigenen Identität.

Die Ausstellung „Kara Walker. A Black Hole is Everything a Star Longs to Be“ wird unterstützt von der Stadt Frankfurt am Main und dem Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. Dr. Philipp Demandt, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, betont: „Wir sind Kara Walker überaus dankbar für das Vertrauen, ihr umfangreiches zeichnerisches Archiv in der Schirn für unser Publikum zu öffnen. Es ist eine einmalige Gelegenheit für einen intensiven Einblick in das vielfältige Schaffen dieser großen Künstlerin. Zeitlebens hat Kara Walker drängende, unbequeme Fragen aufgeworfen und so ein Werk von schonungsloser Dringlichkeit geschaffen. Diese Ausstellung fordert dazu auf, sich einzulassen, auszuhalten. Sie geht uns alle an – als Individuum und als Gesellschaft.“

Die Kuratorinnen der Ausstellung, Dr. Anita Haldemann, Kunstmuseum Basel, und Katharina Dohm, Schirn Kunsthalle Frankfurt, erläutern: „Die Auswahl der Werke aus ihrem privaten, zeichnerischen Archiv und die Entscheidung über ihre Präsentation in der Ausstellung traf Kara Walker selbst. Den Prozess des psychologischen, emotionalen und physischen Wiederentdeckens vergleicht die Künstlerin mit einer ,Ausgrabung‘. Die Suche nach Identität als Künstlerin in einer patriarchalisch und weiß geprägten Kunstgeschichte und als Schwarze Frau in den USA ist ein zentrales Moment ihres Schaffens. Gerade der unfertige Charakter der Skizze und die potenzielle Offenheit der Zeichnung bieten ihr in dieser Praxis den idealen Freiraum. So eröffnen die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten auch keine eindeutige Zuschreibung, sondern vielmehr das Spektrum von Bestandteilen, aus denen Identität konstruiert wird.“

In den 1990er-Jahren wurde Kara Walker mit ihren charakteristischen Scherenschnitten in panoramaartigen Rundbildern und Rauminstallationen bekannt. Die Wahl dieser Technik ist ihre bewusste Entscheidung gegen den etablierten Kunst-Kanon. Im Genre der Malerei, das von der Dominanz weißer Männer und einer weiß perspektivierten Geschichtsschreibung geprägt ist, sah Walker als Schwarze Künstlerin nach ihrem Studium keine Ausdrucksmöglichkeit und wandte sich neben der Silhouette dem Zeichnen zu, das ihre künstlerische Arbeit seither konstant begleitete. Während sich viele Künstlerinnen und Künstler in der Zeichnung frei entfalten, spielt Walker hier aber auch bewusst mit den Traditionen, Stilen und Techniken der westeuropäischen Kunstgeschichte, adaptiert sie, lädt sie mit neuen Inhalten auf. Wie bei den Scherenschnitten täuscht die Künstlerin zunächst mit der filigranen Form und schockiert dann durch die dargestellten Inhalte.

Neben rund 600 Arbeiten aus Walkers privatem Archiv präsentiert die Schirn neuere Arbeiten wie die Serie der vier großformatigen Porträts, die Kara Walker Barack Obama und seiner Rolle als erstem Schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten widmete und die 2019 als Reaktion auf das offizielle Porträt des Künstlers Kehinde Wiley entstand. In der Technik von Kohle- und Pastellkreidezeichnung detailliert ausgearbeitet, stellt Kara Walker Obama in verschiedenen Rollen der religiösen und literarischen Kulturgeschichte Europas dar. Souverän zitiert sie in Barack Obama Tormented Saint Anthony Putting Up With the Whole “Birther“ Conspiracy (2019) Martin Schongauers berühmten Stich des Hl. Antonius aus dem Mittelalter und zeigt Obama als gepeinigten Märtyrer. Im Titel verweist sie auf die rassistische Verschwörungsgeschichte, die behauptet, Obama sei nicht in den USA geboren und seine Präsidentschaft damit unrechtmäßig. Im Werk Barack Obama as Othello „The Moor“ With the Severed Head of Iago in a New and Revised Ending by Kara E. Walker (2019) stellt Walker Obama mit dem abgetrennten Kopf seines Amtsnachfolgers Donald Trump dar. Die Künstlerin schreibt dabei die Geschichte um: Anders als in Shakespeares Stück, in dem sich Othello am Ende selbst tötet, inszeniert Walker in der gewaltvollen Szene Trump als geköpften Jago.

Auf sprachlicher und zeichnerischer Ebene bedient sich Walker in der Auseinandersetzung mit Themen wie rassistischer und sexualisierter Gewalt der Stereotype, die sich über Jahrhunderte im kulturellen und visuellen Gedächtnis der USA eingeprägt haben und heute weltweit bekannt sind. So taucht die Figur der Schwarzen Frau bei Walker u. a. als exotisiertes Lustobjekt, als Feldarbeiterin oder als „Mammy“ (abwertende Bezeichnung für die afroamerikanischen Kindermädchen, die in den weißen Familien der Südstaaten arbeiten mussten) auf. Einige Arbeiten aus Kara Walkers Archiv verweisen ebenso auf Beispiele von Sexismus und Rassismus in Deutschland. Dabei geht es Walker nicht um eine reine Reproduktion, sondern um eine schonungslose Konfrontation und groteske Überzeichnung, die entsprechende Zuschreibungen entlarvt. Zugleich ist die Rückaneignung (Reclaiming) eine Reaktion auf kulturelle Aneignung (Appropriation) und eine Strategie der Selbstermächtigung wie etwa die Beanspruchung des NWorts durch einen Teil der Schwarzen Bevölkerung in den USA. Als Künstlerin lässt Kara Walker Klischees für sich arbeiten und vermischt Realität, Fiktion und Fantasie. Gleichzeitig lässt sie in der Aneignung von Stilen und Zitaten der westeuropäischen Kunstgeschichte die Grenzen zwischen dem, was tatsächlich geschehen ist, und dem, was hätte geschehen können, verschwimmen. Ihre Arbeit richtet so einen kritischen Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Kara Walker wurde 1969 im kalifornischen Stockton geboren und zog im Alter von 13 Jahren mit ihrer Familie nach Atlanta, Georgia. Dort studierte sie am Atlanta College of Art (Bachelor of Fine Arts 1991) und anschließend an der renommierten Rhode Island School of Design (Master of Fine Arts 1994). Die Künstlerin lebt und arbeitet in New York. Sie hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter der John D. and Catherine T. MacArthur Foundation Achievement Award 1997 und das Eileen Harris Norton Fellowship 2008. Walker ist Mitglied der American Academy of Arts and Letters (gewählt 2012) und der American Philosophical Society (gewählt 2018). 2019 wurde sie von der Royal Academy of Arts, London, zum Honorary Royal Academician ernannt. Ihre Werke sind in renommierten Museen und öffentlichen Sammlungen in den USA und Europa vertreten, etwa im Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel, im Solomon R. Guggenheim Museum, im Museum of Modern Art und im Metropolitan Museum of Art, New York, in der Tate Gallery, London, im Museo Nazionale delle Arti del XXI secolo (MAXXI), Rom und in der Sammlung der Deutschen Bank, Frankfurt a. M.

Eine Ausstellung des Kunstmuseums Basel in Kooperation mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt und dem De Pont Museum, Tilburg. Beratung für die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt durch Contemporary And (C&).

Katalog Kara Walker, herausgegeben von Anita Haldemann. Mit einem Vorwort von Philipp Demandt, Josef Helfenstein und Martijn van Nieuwenhuyzen. Beiträge von Maurice Berger, Aria Dean, Anita Haldemann und Kara Walker. Deutsche und englische Ausgaben je 600 Seiten, 700 Abb., 21,5 x 28 cm, Softcover, JRP|Editions, ISBN 978-3-03764-558-1 (deutsche Ausgabe), ISBN 978-3-03764-557-4 (englische Ausgabe), 45 € (SCHIRN), 60 € (Buchhandel).

www.schirn.de