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Kaiser zwischen Allmacht und Ohnmacht

Günter Müchler schrieb eine neue Biographie über Napoleon

»Am Anfang war Napoleon« – was der Münchner Historiker Thomas Nipperdey für die deutsche Staatenwelt des 19. Jahrhunderts reklamierte, trifft auch für die anderen Länder Europas zu. Keiner hat die Geschichte des Kontinents so geprägt wie Bonaparte, der Erste Konsul und Kaiser der Franzosen. Jetzt ist eine neue Biographie über den Korsenkaiser erschienen.

Der studierte Geschichts- und Politikwissenschaftler und vormalige Programmdirektor von Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und DRadio Wissen, Günter Müchler, nimmt diese europäische Dimension von Napoleons Herrschaft in seiner opulenten Biographie über den Korsen in den Blick. Mit großer erzählerischer Kraft und analytischem Sachverstand erzählt er die Geschichte vom kometenhaften Aufstieg und rasanten Fall eines Mannes, für den Politik immer nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln war, der die Ideen der Französischen Revolution mit dem Schwert verbreitete und die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung der europäischen Staatenwelt gewaltig durcheinanderwirbelte.

Innerhalb des Geflechts äußerer Bedingungen wird die Gestalt Napoleons in seiner historischen Bedeutung analysiert und das Doppelgesicht seiner Herrschaft offenbart: Auf der einen Seite brachte sie bedeutende Fortschritte, wie die Einführung des »Code civil«, der die Gleichheit vor dem Gesetz und den Schutz des Eigentums garantierte, und leistete viel zur Integration des Kontinents. Auf der anderen Seite brachte sie unermessliches Leid über Europa und trug entscheidend zum Erwachen des Nationalismus bei, der politische Krankheit Europas im 19. und 20. Jahrhundert.

Der Frankreichkenner Müchler stellt seinen Protagonisten in die Zeit und hinterfragt, wo Napoleon Gestalter und Getriebener war. Zweifellos, so der Autor, sei Napoleon der überragende Akteur seiner Zeit gewesen, aber dennoch keineswegs frei, nach Gutdünken durch die Weltgeschichte zu schreiten. Im Rückblick auf sein Leben hat dies Napoleon selbst so gesehen. Er sei, so sagte er auf St. Helena, niemals Herr seiner Bewegungen gewesen; er habe Pläne gehabt, aber »niemals die Freiheit, sie durchzuführen. Immer war ich durch die Umstände bestimmt«.

Heil stiftender Befreier oder furchterregendes Monster – zwischen diesen Polen hat das Napoleon-Bild immer geschwankt. Es von allen Klischees befreit und in einen europäischen Rahmen gestellt zu haben, ist das Verdienst des ebenso klugen wie erhellenden Buches von Günter Müchler. Wer sich über die All- und Ohnmacht des Franzosenkaisers informieren will, der ist mit »Napoleon – Revolutionär auf dem Kaiserthron« bestens aufgehoben.

(Günther Müchler: Napoleon. Revolutionär auf dem Kaiserthron, wbg Theiss, Darmstadt 2019, 623 S., 24,00 €. ISBN978-3-8062-3917-1)