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Letzte Aktualisierung: 23.04.2024

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Hörgeräte verringern das Demenz-Risiko

Pathophysiologische Hinweise aus der Neurophysiologie

von Dr. Andreas Mehdorn

(07.06.2023) Hörverlust kann das Demenz-Risiko erhöhen, wie schon seit Langem bekannt ist. Wer seinem Hörverlust durch das Tragen eines Hörgerätes begegnet, kann dieses Risiko deutlich reduzieren. Das zeigt eine aktuelle britische Studie, die DGE-Blog-Autor Professor Dr. Helmut Schatz in diesem Beitrag vorstellt. Welche neurophysiologischen Hintergründe diesem Effekt zugrunde liegen können, erläutert Professor Klaus Ehrenberger in einem Kommentar.

Vor einigen Tagen wurde im Blog der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) berichtet, dass man schon länger versucht, die Alzheimer-Demenz in ihren Frühstadien mit dem GLP-1-Analog Semaglutid zu behandeln. Jetzt erschien zum Thema Demenz im Lancet/Public Health eine longitudinale Kohortenstudie an 437.704 Personen aus der UK Biobank über Demenz und Hörverlust. Verglichen mit gematchten Personen ohne Hörverlust hatten diejenigen mit Hörverlust ohne Hörgeräte ein erhöhtes Risiko an Demenz (HR 1.42; 95 Prozent CI 1.29-1.56), nicht aber Personen mit Hörverlust, die Hörgeräte trugen (1.04; 0.98-1.10).

Die positive Assoziation wurde für Demenz jeglicher Ursache gefunden, und auch für spezielle Subtypen wie bei Alzheimer-Erkrankung, vaskulärer Demenz sowie bei Demenz ohne Morbus Alzheimer und bei nichtvaskulärer Demenz heißt es in den Medizinischen Kurznachrichten aus der Endokrinologie.

Prof. Helmut Schatz erklärt dazu: „Der geschätzte attributable Anteil des Hörverlusts an der Entwicklung einer Demenz betrug bei den Personen mit einem Hörverlust, die keine Hörgeräte trugen, 29.08 Prozent. Von der Gesamt-Assoziation zwischen dem Tragen eines Hörgeräts und der Verminderung der Demenz wurden nur 1.5 Prozent durch eine Verringerung der sozialen Isolation, 2.3 Prozent durch eine Reduktion der Einsamkeit und 7.1 Prozent durch eine Verringerung einer depressiven Stimmungslage erklärt. Nur ein vergleichsweise geringer Anteil der Assoziation ließ sich somit durch eine Verringerung psychosozialer Probleme erklären.“

In seinem Kommentar dazu schreibt Prof. Schatz: „Weltweit betrifft ein Hörverlust (>/= 20 dB) etwa jeden zehnten Menschen zwischen 40 und 69 Jahren, 30 Prozent der über 65-Jährigen und 70-90 Prozent ab dem 85. Lebensjahr. Gegenwärtig läuft bei uns in Deutschland eine Welle von Einladungen zu kostenlosen Hörtesten durch Akustiker und Hörgerätehersteller, und viele Augenoptiker wie etwa in Deutschland Fielmann oder andere auch in Österreich nehmen Hörgeräte mit den nötigen Testungen in ihr Programm auf. Es scheint so zu sein, dass Hörgeräte zunehmend häufiger, bald wie Brillen, angefordert werden.

Eine Assoziation zwischen Hörverlust und Demenz wurde schon vielfach publiziert. Dies entspricht auch den individuellen Erfahrungen vieler von uns. In der hier besprochenen Arbeit aus der UK Biobank wird nun nahegelegt, dass bei Personen mit einem Hörverlust das Demenzrisiko durch das Tragen eines Hörgeräts verringert werden kann. Im begleitenden Kommentar loben Gill Livingston und Sergi Costafreda schon im Titel einen „huge progress“, weisen aber auch darauf hin, dass noch „more to do“ sei.“

Klaus Ehrenberger, o.Univ.-Prof. (emer.) Dr. med., Direktor a. D. der Wiener Universitäts-HNO-Klinik, hat ebenfalls einen Kommentar dazu verfasst, den wir hier abdrucken: „Taub und Doof haben sprachlich eine gemeinsame Wurzel. Der Zusammenhang ist also seit undenklichen Zeiten bekannt.

Zu neurophysiologischen Hinweisen, die immer wieder diskutiert werden: Glutamatrezeptoren sind entscheidend bei der Signalübertragung im optischen, akustischen und olfaktorischen System. Sie stabilisieren auch die Gedächtnisbildung. Störungen des Glutamathaushaltes, wie z.B. Glutamatintoxinationen, stören diese Funktionen bis zum Funktionsausfall. Glutamatantagonisten wie Memantine oder Ketamin werden daher erfolgreich bei Glutamatstoffwechselstörungen wie z.B. auch dem Gedächtnisverlust bei Demenz therapeutisch eingesetzt. Es ist durchaus plausibel, dass Stimulationen glutamaterger Sinnesorgane zu Funktionsverbesserungen führen können.
Ein weites Feld!“