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Letzte Aktualisierung: 28.03.2024

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Gender in Kinderkrippen

Eine Studie der Frankfurt University of Applied Sciences

von Sarah Blaß

(01.06.2023) Doing Gender bedeutet, dass wir Geschlecht nicht einfach haben, sondern „tun". Während zum Doing und Undoing Gender in frühpädagogischen Kontexten mit über dreijährigen Kindern etliche Untersuchungen vorliegen, ist Gender in Kinderkrippen ein Forschungsfeld, das bisher wenig bearbeitet wurde. Prof. Dr. Ute Schaich, Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS), möchte mit ihrer ethnographischen Studie „Geschlechterdifferenzierung in Krippen“ einen Beitrag leisten, um diese Lücke zu schließen.

Prof. Dr. Ute Schaich, Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit an der Frankfurt UAS, befasst sich mit Gender in Krippen.
Foto: Sebastian Wolf/Frankfurt UAS
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Die Studie berücksichtigt alle Akteure (Kinder, Fachkräfte, Eltern) sowie die materielle Umwelt in diesem ersten außerfamiliären Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsfeld. Die Erkenntnisse beziehen sich auf die Geschlechterkonstruktionen der Kinder, auf geschlechtsbezogene Aspekte der Fachkraft-Kind- und Eltern-Kind-Interaktionen, auf Zusammenhänge zwischen Körper, Differenz und Geschlecht und auf die Bedeutung der Auswahl von Mobiliar und Spielzeug. Aufgrund der gesammelten Erkenntnisse wurden Kriterien für ein genderreflektiertes Arbeiten in Krippen zusammengestellt.

Im Fokus der Studie standen drei Fragen: 1. Wie wird Geschlecht in den Interaktionen zwischen Kindern in den ersten drei Lebensjahren, ihren Eltern sowie Pädagogen bedeutsam gemacht? 2. Wie stellen sich Verknüpfungen zu weiteren sozialen Differenzlinien dar, zum Beispiel zu „class, race and body“? 3. Welche Bedeutung haben Mobiliar und Spielzeugausstattung bei den Interaktionen bezogen auf Geschlecht?

Die Forschung wurde in drei Kinderkrippen im städtischen Raum mit heterogenen Einzugsgebieten im Hinblick auf Bildungsnähe, Einkommensniveau und Migrationserfahrungen der Familien durchgeführt. In ihnen wurden morgendliche Ankommens-, Frühstücks- und Spielsituationen teilnehmend beobachtet, um die Interaktionen aller Beteiligten – Kind(er), Eltern und pädagogische Fachkräfte – zu erfassen. Ebenso wurden Interviews mit Fachkräften und Eltern durchgeführt und ausgewertet. Es liegen insgesamt 15 Beobachtungsprotokolle und 18 transkribierte Interviews (neun mit Fachkräften und neun mit Eltern) vor. Das Alter der 31 beteiligten Kinder lag zwischen 14 und 36 Monaten.

„Eine Herausforderung bestand darin, dass Kinder in diesem Alter noch relativ am Anfang ihrer Sprachentwicklung stehen. Zur Erfassung ihres Relevanzsystems war es deshalb bedeutsam, den Blick gerade auch auf Körperhaltungen, Bewegungen, Stimme, Kleidung und Körperschmuck zu richten“, so Schaich. Um Geschlechterstereotype nicht zu reproduzieren, galt es bei der Auswertung dann zu beachten, dass Handlungen, Kleidung oder Spielgegenstände zwar geschlechtlich codiert, Geschlechtersymboliken aber dynamisch sind.

Schaich hebt folgende Ergebnisse besonders hervor:

1. Auf der Ebene der Kinder wurde deutlich, dass es in ihren Interaktionen mit Erwachsenen oder Gleichaltrigen vier Tendenzen im Hinblick auf die Konstruktion von Geschlecht gab: sich ähneln bzw. sich unterscheiden; Reflexion auf Geschlechterinszenierungen der Erwachsenen; Bezug zu Körpermerkmalen; Bezug zu symbolhaften Körperausstattungen und/oder geschlechtersymbolisch besetzten Gegenständen.

2. Auf der Ebene der Fachkraft-Kind-Interaktion zeigten sich Tendenzen der Reproduktion wie auch der Überschreitung von herkömmlichen Geschlechtermustern. Zum Beispiel wurden Jungen schwerpunktmäßig für motorische Handlungsautonomie im Zusammenhang mit Mut, Kraft und Stärke gelobt, Mädchen für Selbstständigkeit in alltäglichen Dingen, wie sich beispielsweise selbst an- oder auszuziehen. Bei Mädchen wurden auffallend häufig Schönheitsattribute hervorgehoben (Haare, Kleidung, Schmuck), und es gab viele Szenen, in denen ihnen die Haare gerichtet wurden. Sie wurden für Kraft ebenso wie für Grazie gelobt, aber wenig zu kühnen Aktivitäten ermutigt. Jungen bekamen auch Komplimente für ihr Aussehen, aber nicht so ausgeprägt. Sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen fanden sich zahlreiche Situationen, in denen ihnen unterschiedliche Gefühlsqualitäten zugestanden wurden (Ärger und Wut ebenso wie Angst oder Traurigkeit). Letzteres spricht für eine Haltung der Fachkräfte, Gefühle nicht nach Geschlecht zuzuschreiben. Indes fielen insbesondere bei Jungen Sequenzen auf, in denen sie durch Spielobjekte und Aktivitäten von schwierigen Emotionen abgelenkt wurden.

3. Bei den Fachkräften besteht ein Bewusstsein dafür, dass es gilt, das eigene geschlechterstereotype Handeln kritisch zu überdenken, und es werden Freiräume gewährt, um Kindern flexible geschlechtliche Erprobungen zu ermöglichen, auch jenseits der herkömmlichen Geschlechterdichotomie. Zugleich bleiben heteronormative, geschlechterbinäre Reproduktionsmechanismen wirkmächtig.

4. In Kinderkrippen findet eine Bandbreite an körperlichen oder körperbezogenen Handlungen (z.B. in Pflegesituationen, aber auch in der sonstigen Alltagsbegleitung) statt, die an der Konstruktion von Geschlecht beteiligt sind. Entsprechend haben körperlich-affektive Faktoren eine hohe Bedeutung, wenn es darum geht, Prozesse der Vergeschlechtlichung zu verstehen. Je nachdem, welche körper-, race- und geschlechtsbezogenen Normen vermittelt werden, wenn über die Körper- und Geschlechtsmerkmale oder Ausscheidungsprodukte der Kinder gesprochen wird, können anerkennende oder abwertende Botschaften transportiert werden, die ggf. auch soziale Ausgrenzung befördern.

5. Eine entsprechende Umgebungsgestaltung unterstützt eine gleichmäßige Inanspruchnahme der Materialien durch die Kinder, jenseits herkömmlicher Geschlechterzuschreibungen. Günstig ist eine Umgebung, in der es kaum vorgefertigte, sondern überwiegend naturbelassene Materialien aus Holz (Spielfahrzeuge, Kinderküchenaccessoires) oder Körbe gibt sowie Knetmasse, Malrequisiten und nackte oder schlicht bekleidete Babypuppen unter Berücksichtigung verschiedener Hautfarben.

6. Die Rekonstruktion der Wahrnehmungen, die die Fachkräfte über Familien zum Ausdruck bringen ebenso wie die Schilderungen der Eltern, lassen auf Lebensrealitäten schließen, in denen eine Haupt-Zuständigkeit von Müttern bei der Kinderbetreuung bewahrt und die frühe Vater-Kind-Beziehung als weniger zentral erachtet wird, trotz beruflichem Engagement der Frauen und Beteiligung der Männer an Fürsorgeaufgaben.

7. Die Eltern wünschen sich ein starkes und durchsetzungsfähiges Kind, egal, wie die Geschlechtszugehörigkeit ist. Während der Geschlechterbezug in diesem Leitbild neutralisiert wird, werden kindliche Schwäche und Vulnerabilität ausgeblendet.

8. In der Praxis des pädagogischen Alltags ist eine intersektionale Haltung angezeigt, die die Kategorien „gender, body, class and race“ der Reflexion zuführt. „Dabei ist zu berücksichtigen, dass Wissen allein nicht genügt. Zu einer genderreflektierten Auseinandersetzung gehört die Offenheit gegenüber Widersprüchlichkeiten und der Einbezug der affektiven Ebene mit Hilfe von Fallbeispielen, z.B. basierend auf den ethnographischen Protokollausschnitten des Forschungsprojekts“, so Schaich.

Schaichs Studie wurde im Zeitraum Oktober 2020 bis Juli 2022 durchgeführt und vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Schwerpunkt „Frauen- und Geschlechterforschung“ gefördert. Ihr im Mai 2023 erschienenes Buch „Gender in Kinderkrippen. Wie Geschlecht bedeutsam gemacht wird. Eine ethnographische Studie“ enthält zahlreiche Beobachtungs- und Interviewsequenzen, die in der Lehre und in Fortbildungen für Fachkräfte verwendet werden können sowie Hinweise für genderreflektiertes Arbeiten im Hinblick auf unterschiedliche Praxisebenen. idw.-