Das Online-Gesellschaftsmagazin aus Frankfurt am Main

Letzte Aktualisierung: 15.01.2025

Werbung
Werbung

Freies Deutsches Hochstift erwirbt Clemens Brentanos religiöse Manuskripte zu Anna Katharina Emmerick

von Ilse Romahn

(01.07.2024) Das Konvolut zu Clemens Brentanos Beschäftigung mit dem Leben und den Visionen Anna Katharina Emmericks umfasst 31 Archivboxen mit 12.300 Seiten Text, davon 7.800 Seiten von Brentanos Hand. Ermöglicht wurde der Ankauf dieses einzigartigen Werkkomplexes durch die Förderung der Kulturstiftung der Länder, der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, der Hessischen Kulturstiftung sowie der Georg und Franziska Speyer’schen Hochschulstiftung.

Dem Freien Deutschen Hochstift ist es gelungen, von der katholischen Ordensgemeinschaft der Redemptoristen (Provinz Wien-München) ein umfangreiches Konvolut zu Clemens Brentanos Beschäftigung mit dem Leben und den Visionen Anna Katharina Emmericks zu erwerben. Die Materialien waren bereits ab
den späten 1960er Jahren schrittweise in das Freie Deutsche Hochstift überführt worden, wo sie seitdem im Rahmen der Frankfurter Brentano-Ausgabe für die Edition der religiösen Schriften herangezogen werden.

Die 31 Archivboxen mit 12.300 Seiten Text, davon 7.800 Seiten von Brentanos Hand sind bedeutende Quellen zur Entstehung und Publikationsgeschichte von Brentanos umfangreichstem Werk. So geben die gebundenen Tagebücher im Großfolioformat mit ihren aufgeklebten und mehrfach überarbeiteten Berichten vom Krankenbett Emmericks präzise Einblicke in die Entstehung von Brentanos „religiösem Weltepos“ (Joseph Görres). Hinzu kommt Brentanos Arbeitsarchiv mit Landkarten des heiligen Landes und zahlreichen Redaktionsstufen der entstehenden Manuskripte und Korrespondenzen der späteren Bearbeiter. Mit dem Ankauf ist der dauerhafte Zugang des einzigartigen Werkkomplexes für Wissenschaft und Öffentlichkeit gesichert. Seit der Eröffnung des Deutschen Romantik-Museums im September 2021 sind dort 133 faksimilierte Blätter aus dem Bestand sowie wechselnde Originale zu sehen.

Mehr als sechs Jahre, von Ende 1818 bis 1824, verbrachte Clemens Brentano (1778–1842) im westfälischen Dülmen am Krankenbett der ehemaligen Nonne Anna Katharina Emmerick (1774‒1824), die als junge Frau in den Augustinerorden eingetreten war. Nach der Aufhebung des Klosters Agnetenberg 1811 verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand, an ihrem Körper zeigten sich die Wundmale Christi (‚Stigmata‘), und sie wurde regelmäßig von religiösen Visionen heimgesucht. Emmericks Leidensgeschichte wurde rasch bekannt, der preußische Staat ließ den Fall sogar durch eine Kommission untersuchen. Brentano erkannte die Möglichkeit eines religiös-poetischen Projekts ungeahnten Ausmaßes. Als „Schreiber“ wollte er sich ganz in den Dienst göttlicher Wahrheit stellen, die ihm durch das Medium eines leidenden, unverbildeten „Bauernmädchens“ zuteilgeworden war. Er befragte die Kranke systematisch zu ihren Visionen. Auf diese Weise entstand ein gewaltiges Archiv von Aufzeichnungen, in denen Brentano die Mitteilungen Emmericks mit mystischen und
apokryphen Schriften, barocker Erbauungsliteratur und Reiseberichten aus dem Heiligen Land verknüpfte. Ermöglicht wurde der Ankauf durch die Kulturstiftung der Länder, die Carl Friedrich von Siemens Stiftung, die Hessische Kulturstiftung und die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung. Das Freie Deutsche Hochstift dankt den Geldgebern für die bedeutende Förderung.

Über Clemens Brentanos religiöse Manuskripte zu Anna Katharina Emmerick (1818–1842)
Nach seiner Rückkehr zur katholischen Kirche 1817 stellte Clemens Brentano (1778–1842) seine literarische Tätigkeit – von prominenten Ausnahmen abgesehen – weitgehend in den Dienst des Katholizismus, der durch die Aufklärung und die der Französischen Revolution folgenden politischen Erschütterungen massiv erschüttert worden war. Ab Herbst 1818 hielt er sich mit Unterbrechungen am Krankenbett der ehemaligen Augustinernonne Anna Katharina Emmerick in Dülmen (unweit von Münster) auf, die seit einigen Jahren im Wochenzyklus die Wundmale Christi trug und von Visionen heimgesucht wurde. In ihren ekstatischen Zuständen schien sie unmittelbar an den realen historischen Geschehnissen teilzunehmen, so dass Brentano im Lauf der Zeit ein Schreibprojekt von ungeahnten Ausmaßen entwickelte. Als „Schreiber“ der Emmerick wollte er der Menschheit die Wahrheit über ihre Geschichte und ihre heilsgeschichtliche Perspektive mitteilen. Zugleich sah er sich als Biograph der visionsbegnadeten Frau. So plante er drei Publikationen: „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi“ mit einem „Lebensumriß“ der Emmerick als Einleitung, das „Leben Mariae“ und die „Lehrjahre Jesu“. Zu diesen Buchprojekten enthält das Konvolut nicht nur umfangreiche Vorarbeiten, sondern auch ausführliche Dokumentationen der komplizierten
Publikationsgeschichte nach Brentanos Tod.

Brentanos Emmerick-Materialien sind in Umfang, Anspruch und Wirkung ein Schreibprojekt von unerhörten Ausmaßen. Ging es Brentano in der mit Achim von Arnim herausgegebenen Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1805-1808) noch um die Herstellung einer genuin deutschen Vergangenheit, die die
Gegenwart tragen und verklären sollte, so wird im Emmerick-Projekt ein deutlich größerer Grundriss gezogen. Nun nimmt Brentano die Geschichte der gesamten Menschheit in den Blick, die in einer bilderreichen Erzählung der Gegenwart nationen- und schichtenübergreifend einen leicht fasslichen,
christlichen Deutungsrahmen bereitstellen soll.

Ein weltveränderndes Unterfangen dieser Größenordnung konnte nicht das Werk eines einzelnen sein, sondern bedurfte der Beglaubigung durch eine begnadete Seherin, die unmittelbaren Zugang zu den biblischen Geschehnissen hatte. Dass die ‚Authentizität‘ der Mitteilungen von A.K. Emmerick faktisch durch Brentanos stillschweigende poetische Überformung und Neuschöpfung erst hergestellt wurde, ändert nichts am Anspruch und an der Größe seines Projektes, im Gegenteil. Letztlich ging es in Brentanos riesenhaftem Rekonstruktionsversuch eines verlorenen Ideen- und Geschichtenparadieses um die „visionäre Beweisführung für die Wahrheit romantischer Grundideen“ (Wolfgang Frühwald).

Brentanos Arbeitsarchiv zu A.K. Emmerick ist wesentlich mehr als der Fundus seiner (in großen Teilen erst nach seinem Tod verändert zu Stande gekommenen) Buchprojekte. Das Herzstück bilden die gebundenen Tagebücher im Großfolioformat mit tagesgenauen Aufzeichnungen zu den Visionen der Emmerick – die freilich erst nach deren Tod 1824 entstanden. Sie lesen sich wie wörtliche Protokolle, doch konnte die Forschung nachweisen, dass Brentano über weite Strecken auch ältere Werke der Theologie hinzuzog sowie die seit der Aufklärung verpönte Erbauungsliteratur des Barock. Eine große Rolle spielten ferner historische Reiseberichte aus dem Heiligen Land und historische Karten.

So sind in der enorm umfangreichen Materialsammlung das biblische Geschehen mit der Krankengeschichte Emmericks und der biographischen Konstellation ihres „Schreibers“ Brentano unauflöslich verbunden. Im Gegensatz zu den gedruckten Büchern gibt das handschriftliche Material deutlich seine Gemachtheit preis. Brentano hat die Faszikel in jahrelangen Redaktions- und Überarbeitungsphasen immer wieder durchgesehen, abgeschrieben, umgeordnet, zerschnitten, neu aufgeklebt, für Registerlisten ausgewertet und mit Illustrationen versehen, die Eduard Steinle beim ersten Band als Vorlagen für seine Holzschnitte dienten. Dieses umfangreiche Archiv, das nicht nur in den Beständen des Freien Deutschen Hochstifts seinesgleichen sucht, wird nun langfristig für die Forschung und die Öffentlichkeit erhalten bleiben. Nicht zuletzt im 2021 eröffneten Deutschen Romantik-Museum, in dem 133 faksimilierte Blätter aus dem Bestand sowie wechselnde Originale gezeigt werden, stößt das Materialkonvolut immer wieder auf beträchtliche Resonanz. Dass die durchaus ambivalente Grandiosität des heilsgeschichtlichen Projekts in der heutigen Gegenwart seine Faszination nicht verloren hat, zeigt das anhaltende Interesse bei Gegenwartsautorinnen und -autoren, etwa Kai Meyer (‚Das Gelübde‘ 1998, verfilmt von Dominik Graf 2008), Thomas Meineke (‚Jungfrau‘ 2011) und Sibylle Lewitscharoff (‚Herr, gib mir Geduld und dann schlag tüchtig zu‘ 1989, ‚Abraham trifft Ibrahîm‘ 2018).

Freies Deutsches Hochstift