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Letzte Aktualisierung: 17.04.2024

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Festvortrag von Prof. Matthias Wagner K in der Paulskirche zum Tag der Deutschen Einheit

„Gestalten wir, wie wir leben wollen?“

von Ilse Romahn

(04.10.2022) „Wir sollten dankbar sein über den geschichtlichen Glücksfall, der die deutsche Wiedervereinigung ohne Krieg möglich gemacht hat, und ohne den wir heute nicht den Tag der Deutschen Einheit feiern könnten – in Frieden und in Freiheit.“ Mit diesen Worten hat Stadtkämmerer Bastian Bergerhoff am Montag, 3. Oktober, die rund 200 Gäste bei der Feier zum Tag der Deutschen Einheit in der Paulskirche begrüßt.

Bildergalerie
Der Direktor des Museums Angewandte Kunst, Prof. Matthias Wagner K, bei seiner Festrede zum Tag der Deutschen Einheit
Foto: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Salome Roessler
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Das Ensemble der Neuen Philharmonie Frankfurt spielt Joseph Haydn
Foto: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Salome Roessler
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Mit Blick auf die Geschichte zog Bergerhoff eine Parallele zwischen den Zielen des Paulskirchenparlaments von 1848 und der friedlichen Revolution in der DDR von 1989. „Hier und heute stehen Ort und Veranstaltung in einem engen Bezug zueinander. Es ist der angemessene Ort für die heutige Veranstaltung.“ In der Frankfurter Paulskirche hatte sich 1848 das erste deutsche Parlament getroffen. Die Stadt wird das 175. Jubiläum dieses Ereignisses 2023 feierlich mit einem großen Programm begehen.
 
Stadtkämmerer Bergerhoff forderte angesichts der aktuellen Herausforderungen auch solidarisches Handeln: „Die Solidarität, die zur Deutschen Einheit geführt hat; der Freiheitswille, der darin zum Ausdruck kam; die auch internationale Solidarität, die sie erst ermöglicht hat – all das, das Fundament unseres heutigen Deutschlands, sollte uns mahnen: Krieg, Scheinreferenden, Unterdrückung und Zwangsrekrutierung, der Überfall auf einen souveränen Staat, all das ist inakzeptabel und wir müssen widerstehen. Die Erpressung der Welt mithilfe eines nuklearen Waffenarsenals, aber auch mithilfe eigener Rohstoffe sind ebenso inakzeptabel und wir müssen widerstehen. Zu diesem Widerstehen gehört es nun aber gerade auch, kurzfristig in erheblichem Ausmaß Energie einsparen zu müssen. Wenn es uns gelingt, unseren Verbrauch um ein Fünftel zu reduzieren, sollten wir einigermaßen sicher vor bundesweiten Gasmangellagen sein. Das wird uns nur zusammen gelingen, und nur dann, wenn in dem ‚wir müssen‘ für jede und jeden von uns auch ein ‚ich muss‘ steckt – sonst ist Solidarität eine Worthülse.“
 
Den Festvortrag mit dem Titel: „Gestalten wir, wie wir leben wollen? 32 Jahre Deutsche Einheit“ hielt der Direktor des Museums Angewandte Kunst, Prof. Matthias Wagner K. Darin nahm er Bezug auf seine eigene Lebensgeschichte – er war selbst 1984 aus der DDR ausgewiesen worden. Und er plädierte dafür, die deutsche Einheit als einen Prozess zu verstehen: „Als einen Prozess, der in einem größeren Rahmen einzuordnen ist, weil die mannigfaltigen Probleme nach wie vor globaler Natur sind: Von Menschen gemachter Klimawandel und die stetig zunehmende Konzentration von Reichtum in den Händen weniger führen zu weltweiten Migrationsbewegungen. Demokratische Strukturen werden porös und aktuelle Modelle autokratischer Staatsführung in Ost und West finden zunehmend Anhänger. Sie werden begleitet von hegemonialen Strukturen, Diskursen und Ideologien als Rechtfertigungen, die das nicht zu Rechtfertigende rechtfertigen.“
 
Daher brauche es Prozesse, Strukturen und Atmosphären, die ein Aufeinander-Zugehen im Hier und Jetzt ermöglichten, führte Wagner K aus: „Es braucht ein Gestalten für eine freiheitliche Demokratie und also für das Erlangen von Mündigkeit sowie der Erleichterung, Erweiterung, Erhaltung und Intensivierung des Lebens. Und es braucht diese gestaltete freiheitliche Demokratie als Vorbild und Hoffnung für jene Menschen, denen diese genommen wurde oder die nach ihr streben. Das kann zu keinem anderen Aufruf führen als: Gestalten wir, wie wir leben wollen.“
 
Oft hätten wir keine genaue Vorstellung von der Zukunft, die wir uns wünschen, da wir uns so viel mit den Problemen der Gegenwart beschäftigten, sagte Wagner K: „Dabei ist es wichtig, ein Ziel vor Augen zu haben, auf das man hinwirken kann. Deshalb müssen wir – wieder – beginnen, Visionen, Utopien und entsprechende Narrative als Treiber und Kompass zu entwickeln und auszuarbeiten, die es dann gilt, im kleinen Maßstab zu testen, ihre Umsetzung zu begleiten und Rahmenbedingungen für ihre Verbreitung zu schaffen.“ Sein Fazit: „Nur, wenn wir positive Bilder von der Zukunft im Kopf haben, können wir ihr zuversichtlich und tatkräftig entgegengehen. Und das hieße nicht zuletzt, dass wir es mit einer Aktualisierung von Perspektiven zu tun haben, mit einem vitalen Prozess, zu dem auch der Prozess der Deutschen Einheit gehört.“ (ffm)