Letzte Aktualisierung: 17.04.2024
EU: Langsame Fortschritte auf dem Weg zur Kapitalmarktunion
von Ilse Romahn
(16.11.2020) Der freie Kapitalverkehr ist seit Langem eines der Kernziele der Europäischen Union und bildet neben dem freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr eine der Säulen des Binnenmarkts.
Trotz der Bemühungen der Kommission, das ehrgeizige Ziel der Schaffung einer Kapitalmarktunion zu erreichen, stehen Ergebnisse noch aus. Dies geht aus einem Bericht hervor, den der Europäische Rechnungshof heute vorgestellt hat.
In der EU sind Unternehmen zur Finanzierung ihrer Tätigkeiten üblicherweise in hohem Maße auf Banken angewiesen. Um für Start-ups sowie kleine und mittlere Unternehmen (KMU) eine alternative Finanzierungsquelle zu schaffen und privates Kapital zu mobilisieren, unternimmt die Kommission seit 2015 Anstrengungen, um die Bankenunion durch eine Kapitalmarktunion zu ergänzen. Durch die Kapitalmarktunion sollen auch ganz allgemein grenzübergreifende Investitionshindernisse innerhalb der EU beseitigt werden.
"Die Kapitalmarktunion ist eine bislang noch unvollendete Aufgabe, an der noch viel gearbeitet werden muss", so Rimantas Šadžius, das für den Bericht zuständige Mitglied des Europäischen Rechnungshofs. "Die Maßnahmen der Kommission zur Diversifizierung der Finanzierungsmöglichkeiten für KMU und ihre Bemühungen zur Entwicklung lokaler Kapitalmärkte innerhalb der Kapitalmarktunion haben bisher keine Katalysatorwirkung gezeigt. Die Rolle der privaten Risikoteilung durch die Kapitalmärkte zu stärken, stellt unseres Erachtens weiterhin ein ehrgeiziges Ziel dar, dem dringende Priorität gebührt. Dies würde zu einem EU-Finanzsystem führen, das nicht nur stabiler und krisenfester ist, sondern auch besser gerüstet, um Wachstum anzukurbeln, insbesondere wenn die übliche Bankfinanzierung schwer oder überhaupt nicht zugänglich ist."
Die Prüfer stellten fest, dass zwar einige Fortschritte erzielt wurden, die Erwartungen jedoch zu hoch gesteckt waren, um realistischerweise durch die Maßnahmen erfüllt werden zu können, die in Verbindung mit der Kapitalmarktunion eingeführt worden waren. Bislang steht bei den meisten Rechtsakten, die sich auf die Kapitalmarktunion beziehen, die Umsetzung noch aus oder liegt noch nicht lange zurück. Insbesondere können viele entscheidende Maßnahmen, die im Aktionsplan der Kommission für die Kapitalmarktunion enthalten sind und noch nicht eingeleitet wurden, nur von den Mitgliedstaaten selbst oder mit ihrer vollen Unterstützung ergriffen werden. Viele Maßnahmen, die die Kommission im Rahmen ihrer Zuständigkeit ergreifen konnte, waren nicht verbindlich und in ihrem Umfang zu eng gefasst. Mit diesen Maßnahmen gelang es nicht, wesentliche Fortschritte bei der Verwirklichung der Kapitalmarktunion zu erzielen.
Den Prüfern zufolge waren die Maßnahmen zur Diversifizierung der Finanzierungsquellen für Unternehmen zu schwach, um eine strukturelle Verlagerung hin zu einer stärkeren Marktfinanzierung in der EU anzuregen und zu beschleunigen. Beispielsweise merken die Prüfer an, dass sich der Zugang zu öffentlichen Märkten für KMU bisher weder wesentlich verbessert hat noch kostengünstiger geworden ist. Ferner weisen sie darauf hin, dass die Kommission mehr hätte unternehmen können, um die Finanzkompetenz von KMU und potenziellen Investoren zu fördern. Darüber hinaus war das Verbriefungsrecht – das als Instrument zur indirekten Finanzierung von KMU hätte dienen können – zwar ein positiver Schritt, hat aber bisher weder wie erwartet zu einer einfacheren Finanzierung geführt noch die Kreditvergabekapazität der Banken erhöht.
Zwischen den Mitgliedstaaten bestehen klare geografische Unterschiede hinsichtlich der Kapitalisierung, Liquidität und Tiefe ihrer lokalen Kapitalmärkte. Die westlichen und nördlichen Mitgliedstaaten verfügen tendenziell über tiefere Kapitalmärkte und sich selbst verstärkende Kapitaldrehscheiben, während die östlichen und südlichen Mitgliedstaaten diesbezüglich zurückliegen. Die Prüfer stellten fest, dass die Kommission keine umfassende und klare EU-Strategie zur Überwindung dieser Unterschiede ausgearbeitet hatte. Den Prüfern zufolge nutzte die Kommission ihre Koordinierungsrolle im Prozess des Europäischen Semesters, um die Entwicklung und Integration der lokalen Kapitalmärkte zu fördern, und stellte einigen Mitgliedstaaten Unterstützung bereit. Allerdings gab sie nicht an alle Mitgliedstaaten mit weniger entwickelten Kapitalmärkten die Empfehlung aus, einschlägige Strukturreformen durchzuführen.
Außerdem stellten die Prüfer fest, dass der Aktionsplan für die Kapitalmarktunion im Hinblick auf die Beseitigung der wesentlichen Hindernisse für grenzübergreifende Kapitalströme nicht zum Durchbruch geführt hat. Diese Hindernisse ergeben sich oftmals aus nationalen Rechtsvorschriften, etwa in den Bereichen Insolvenz und Quellensteuer, oder gehen auf die mangelnde Vermittlung von Finanzwissen zurück. Die Fortschritte bei der Beseitigung der Hindernisse waren begrenzt, was teilweise auf mangelnde Unterstützung seitens der Mitgliedstaaten zurückzuführen war.
Ein weiteres Problem im Hinblick auf den Aktionsplan für die Kapitalmarktunion bestand darin, dass die Ziele vage formuliert waren. Die Prioritäten wurden erst spät im Prozess festgelegt. Sofern es Zielvorgaben gab, waren sie tendenziell nicht messbar. Zudem weisen die Prüfer darauf hin, dass Fortschritte nicht regelmäßig und durchgängig nachverfolgt wurden. Sie empfehlen der Kommission, ihren Überwachungsrahmen deutlich zu verstärken.
Der Hof unterbreitet der Kommission eine Reihe weiterer Empfehlungen, um die Wirksamkeit des Projekts einer Kapitalmarktunion zu verbessern. Dazu gehören die Durchführung gezielter Maßnahmen, um den Zugang von KMU zu den Kapitalmärkten weiter zu erleichtern, sowie Maßnahmen zur Beseitigung der Fragmentierung und der wichtigsten grenzübergreifenden Investitionshemmnisse. Darüber hinaus ersucht der Hof den Rat zu prüfen, wie der Vorschlag der Kommission zur Beseitigung der unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von Eigen- und Fremdkapital, welche der Schaffung einer Kapitalmarktunion entgegensteht, weiter vorangebracht werden kann.
Hintergrundinformation: Da der Europäische Rechnungshof seine Prüfungsarbeit vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie abgeschlossen hat, werden in diesem Bericht politische Entwicklungen und andere Veränderungen, die als Reaktion auf die Pandemie eingetreten sind, nicht berücksichtigt.
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