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Letzte Aktualisierung: 24.04.2024

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Ein Blick mitten auf den Teller

"Gesunde Nahrungsmittel, die tatsächlich ungesund sind"

von Prof. Helmut Schatz

(17.06.2022) Nur wenig Fett, möglichst gesundes Fett aus Avocado oder Olivenöl oder doch eher fettreich? Ernährungstrends, die Gesundheit und Wohlbefinden versprechen, füllen immer wieder Ratgeber-Websites und die Seiten von Illustrierten. Die meisten kommen mit immer neuen Empfehlungen zur angeblich idealen Nahrungszusammensetzung, insbesondere dem Verhältnis von Fett, Kohlenhydraten und Eiweiß, daher. Aber wie definiert eigentlich die Medizin eine „gesunde Ernährung“?

Diese Frage versuche ich heute im aktuellen Blog-Beitrag der Medizinischen Kurznachrichten aus der Endokrinologie zu bewantworten und gebe  darin auch eine Einschätzung zur Wirksamkeit von Ernährungstipps: Am Pfingstmontag geht auf meinem Mobiltelefon ein Beitrag mit dem Titel "Gesunde Nahrungsmittel, die tatsächlich ungesund sind" ein.  Viele Zeitschriften wie etwa FOCUS und das Internet sind voll mit Beiträgen zu diesem Thema. So kann man auf der von der Allgemeinheit viel genutzten Internet-Plattform „Chefkoch“ lesen: „Eine gesunde Ernährung bedeutet: Mehr pflanzliche (Obst, Gemüse, Getreide) als tierische Lebensmittel (Fleisch, Fisch, Milchprodukte, Ei) und nur wenig Fett, Salz und Zucker."

In der Medizin und den Ernährungswissenschaften variierten die Prozentsätze der Zusammensetzung der Nahrung aus  Kohlenhydraten, Fetten und Eiweiss im Laufe der Zeit beträchtlich:  Als Student lernte ich in den fünfziger Jahren: 50-55 Prozent Kohlenhydrate, 30 Prozent Fette und 15-20 Prozent Eiweiss. 

Vor etwa knapp fünf Jahren publizierte Frau Dr. Mahshid Dehghan vom Population Health Research Institute, Hamilton (Canada), auf dem ESC-Kongress 2017 in Barcelona, dass der Mensch, der sich zu 35 Prozent Fett ernährt, ein niedrigeres Sterberisiko hat als der, welcher weniger Fett konsumiert. Das Sterberisiko  steige, wenn man mehr als 60 Prozent Kohlenhydrate esse.  Die Prospective Urban-Rural Epidemiology (PURE) – Study bei >135.000 Menschen aus fünf Kontinenten über im Mittel 7.5 Jahre fand das niedrigste Mortalitätsrisiko auch bei den Menschen, die durchschnittlichdrei bis vier Portionen Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte aßen.  Summary at the ESC 2017: High carbohydrate intake is linked to worse total mortality and non-cardiovascular (CV) mortality outcomes, while high fat intake is associated with lower risk. The large dietary study showed that even relatively moderate intake of fruit, vegetables and legumes such as beans and lentils may lower a person´s risk of CV disease and death. Die Studie wurde heftig kritisiert, insbesondere auch methodisch.

Ebenfalls im Jahre 2017 wurden die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung aktualisiert. Die bisherige Warnung vor einem erhöhten Übergewichtsrisiko durch viel Fett sowie auch für Herz-Kreislauferkrankungen wurde zurückgenommen und die Empfehlung für täglich nur 60-80g Fett gestrichen, ebenso die Warnung vor „unsichtbaren“ Fetten in Milchprodukten. Die Gesellschaft publizierte als Referenzwerte für Erwachsene von  19-65 Jahren, einen Fettanteil von 30Prozent,  von 55 Prozent Kohlenhydraten und 15 Prozent Eiweiss, also in etwa das, was ich im Studium gelernt hatte. Die Gesellschaft betonte dabei, dass nicht die prozentuale Verteilung im Mittelpunkt stehe, sondern dass sich die Qualität der Fette und Kohlenhydrate verbessern müsse.

In der Folgezeit gab und gibt es eine anhaltende Diskussion über solche Daten, die Methoden ihrer Erhebung, ihre Interpretation und auch die daraus abgeleiteten Ernährungsempfehlungen. Dem Referenten (H.S.) sei eine chronologische Betrachtung  erlaubt: In seiner Zeit als junger Assistenzarzt wurden die Fette sehr kritisch beurteilt, so etwa auch die Butter (Stichwort Margarine!). In den letzten Jahren  erleben die Fette eine Renaissance und zuviel Kohlenhydrate werden als problematisch angesehen. Ob dahinter, wie in der seriösen Fachliteratur vor etlichen Jahren publiziert wurde, Lobbyismus steht, etwa durch Unterdrückung von Forschungsergebnissen, wie zu lesen war, vermag ich nicht zu beurteilen.

Nun zum eigentlichen Thema dieses Blogbeitrags mit dem Titel „Gesunde Nahrungsmittel, die tatsächlich ungesund sind“: Dazu möchte ich, als Helmut Schatz und nicht als Blogverantwortlicher der DGE, meine Meinung abgeben:

Ein gesunder, nicht erkrankter Mensch kann und soll sich mit der bei uns üblichen Mischkost in ausgewogener Menge ernähren. Eine Klassifizierung in „gesunde“ und „ungesunde“ Nahrungsmittel halte ich für nicht angezeigt.  Der Artikel führt als „ungesund“ oder „nicht gesund“ Nahrungsmittel an, die ich,  jetzt im 85. Lebensjahr bei einigermaßen guter Gesundheit häufig mit Genuss verzehre oder verwende: Rahmspinat, geröstete Maiskolben, Haferflockenprodukte, Zwiebel, Avocado, Nüsse, Müsli, Pflanzenöle, Fruchtsäfte, Weizenbrot, Joghurt, Couscous u.v.a.

Wer die irreführende Überschrift gewählt hat? Wohl kein Ernährungswissenschaftler oder Arzt, sondern eher ein Journalist (?). Denn die Beschreibung der Lebensmittel ist meist recht informativ, so etwa, dass in den vielen Fruchtsäften in ein zucker- oder süßstoffhaltiges Wasser nur verschiedene Aromen und Farbstoffe und wenig oder kaum echte Fruchtbestandteile gegeben werden sollen,  oder dass in „Spinatnudeln“ und „Tortellini mit Spinatfüllung“ durch den Herstellungsprozess der Spinat alle seine erwünschten Eigenschaften verloren hat, Joghurt ebenso seine angebliche „probiotische“ Wirkung usw. usw.. Das heisst aber, diese laut Überschrift „ungesunden“ Nahrungsmittel kann doch jeder gesunde Mensch in seine nach persönlicher Vorĺiebe zusammengesetzte Mischkost einbauen. Für mich ist in meiner Praxis das Thema „Gesunde und ungesunde Ernährung“ ebenso ohne Bedeutung wie „Nahrungsergänzungsmittel“.

Natürlich gilt dies nicht für Patienten etwa mit Adipositas, Diabetes, Hypertonie  u.a., oder bei nachgewiesenen Mangelzuständen. Die in der Medikamenten-Anamnese sehr oft angegebenen Nahrungsergänzungsmittel wurden von den meisten meiner Patienten auch nach längeren Aufklärungsgesprächen über ihre Nutzlosigkeit meist  weiter eingenommen, so daß ich heute darüber keine längeren Gespräche mehr führe.