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Die Wahrheit hinter Nord Stream

Wie deutsche Politiker zu Komplizen Putins wurden

Was haben Erdgasleitungen, die nach Deutschland führen, mit dem größten europäischen Krieg seit 1945 zu tun? Welche ehemaligen Stasi-Netzwerke sind in das Drama um Nord Stream verwickelt? Wie unterstützte Angela Merkls Bundesregierung Russlands Kriegswirtschaft? Das Buch „Nord Stream“ von Steffen Dobbert und Ulrich Thiele porträtiert erstmals alle wichtigen Personen des Nord-Stream-Skandals.

Foto: Klett-Cotta
Steffen Dobbert
Steffen Dobbert
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Ulrich Thiele
Ulrich Thiele
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Dazu gehören u.a. Frank-Walter Steinmeier, Manuela Schwesig und Siegmar Gabriel. Geschildert wird auch, wie Olaf Scholz versuchte, einen Anschlag auf dem Meeresgrund für seine politischen Ziele zu instrumentalisieren. Das Buch enthüllt durch Insiderquellen neue Zusammenhänge und dokumentiert, wie Gazprom durch strategische Korruption ein deutsches Bundesland steuerte. Und das ging so:

Ein ehemaliger Stasi-Offizier, ein Jurist aus dem Ruhrgebiet und ein Professor, der viele Jahre in Russland gearbeitet hat, gründen ein prorussisches Netzwerk, Gerhard Schröder schaltet sich ein. Und mehr als zweihundert Millionen Euro fließen aus Moskau nach Deutschland. Während Wladimir Putins Armee in der Ukraine immer mehr Menschen tötet, ignoriert die deutsche Regierung Warnungen vor einer Eskalation des Krieges. Siegmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier arbeiten gegen Sanktionen. Eine deutsche Behörde schickt geheime Sicherheitsdaten der Nato nach Russland. Und auch Angela Merkels Kanzleramt möchte weiterhin billiges Erdgas für die deutsche Industrie. Hunderttausende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine werden dafür einkalkuliert. Obwohl Putins wichtigstes Energieprojekt gegen EU-Recht verstößt sowie Sicherheitsanforderungen des TÜV nicht erfüllt, wird es mit Manuela Schwesigs Hilfe vollendet. Auf Nord Stream 1 folgt Nord Stream 2. Die Pipelins bringen dem Kreml jährlich viele Milliarden Dollar ein. Sie helfen, Russlands Krieg zu finanzieren. Bis es zu Explosionen auf dem Grund der Ostsee kommt.

Zusammengefasst könnte man das so beschreiben: Nord Stream 2 ist Teil des russischen Angriffskrieges in Europa. Die Erfolgsmethoden sind ein mächtiges Netzwerk und strategische Korruption. Deutsche Behörden hintergehen die Bundeswehr und geben geheime NATO-Daten an Gazprom weiter. SPD-Ministerpräsidenten stellen sich in den Dienst des russischen Kriegstreibers.

Erstmals porträtieren die Autoren alle wichtigen Personen der Affäre und decken die geheimen Machenschaften des Kremls auf. Sie schildern, wie die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern jahrelang für den Bau der russischen Ostsee-Pipeline kämpft und sich damit in den Dienst Putins stellt. Ungestört baut Gazprom in Deutschland ein korruptives Netzwerk auf. Die Autoren Steffen Dobbert und Ulrich Thiele enthüllen darüber besorgniserregende Zusammenhänge: Warum fließen 200 Millionen Euro aus Moskau an die deutsche Ostseeküste? Weshalb gibt eine deutsche Behörde geheime NATO-Daten an Gazprom weiter? Wieso ignoriert die Bundesregierung ukrainische Warnungen vor einer Kriegseskalation? Und sie zeigen, wie dutzende Volksvertreter sich für die Energieaußenpolitik Putins einsetzen, wie ein Ex-Spion der DDR einen folgenschweren Deal mit Gerhard Schröder und Manuela Schwesig verabredet und wie ein geheimes Schiff in der Ostsee an der Fertigstellung der Pipeline arbeitet. Sie entlarven die Strategien, mit denen Putin die EU spaltet, die Ukraine schwächt und Entscheidungsprozesse in Demokratien manipuliert.

Das Buch enthülllt im Einzelnen Folgendes:

  1. Erstmals wird konkret belegt, in welchem Ausmaß Geld aus Deutschland Wladimir Putins Regime finanziert hat. Durch Insider-Informationen über geheime Erdgaspreise rekonstruieren die Autoren, dass deutsche Unternehmen seit Beginn des Krieges in der Ukraine mehr als 104 Milliarden Euro für Erdgas nach Russland überwiesen haben (für Öl und Kohle kamen erhebliche Summen dazu.) Bis zu einem Drittel der russischen Militärausgaben waren so pro Kriegsjahr gedeckt.
  2. Das Bundeskanzleramt unter Angela Merkels Führung wusste um den Wettbewerbsvorteil deutscher Industrieunternehmen durch russisches Gas. Das Buch enthüllt: Dem Kanzleramt war auch klar, dass deutsches Geld für Erdgas zu einer Kriegseskalation in der Ukraine und zahlreichen Kriegsflüchtlingen beitragen wird. Auf direkte Warnungen (vorgetragen durch eine ukrainische Delegation im Kanzleramt im Herbst 2018) vor Millionen ukrainischen Geflüchteten antworteten Stellvertreter Merkels: Wir wissen, was wir mit ihnen machen werden.
  3. Die Doppelpipeline Nord Stream 2 wurde anders als Nord Stream 1 vor dem Befüllen mit Gas nicht mit einer Wasserdruckprüfung auf Stabilität überprüft. Damit wurde laut TÜV „das Kriterium einer Festigkeitsprüfung für das Gesamtsystem nicht erfüllt”. In der Genehmigungsbehörde in Mecklenburg-Vorpommern war die Problematik bekannt, doch nachdem Gazprom-Vertreter auf die Landesregierung von Manuela Schwesig eingewirkt haben, hat die Behörde eine Baugenehmigung ohne Wasserdruckprüfung erteilt – trotz Sicherheitswarnungen durch TÜV und eigene Behördenmitarbeiter. Da Nord Stream 2 nicht nach „dem Stand der Technik“ errichtet und getestet wurde (keine allgemeine Anerkennung führender Fachleute, keine Erprobung des Prüfverfahrens), könnte das Land Mecklenburg-Vorpommern nach der Explosion der Pipeline für Schäden haftbar gemacht werden.
  4. Die Recherchen belasten Frank-Walter Steinmeier mit bisher nicht bekannten prorussischen Aktivitäten. Als Außenminister hat Steinmeier gegen Russland-Sanktionen gearbeitet und laut eines internen Dokuments deutsche Beamte und Politiker per detaillierter „Sprachregelung zu Nord Stream II“ verpflichtet, sich nicht gegen Putins Pipelinepläne zu stellen. Das Dokument ist unter Steinmeiers Verantwortung in Abstimmung mit dem damaligen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel entstanden. Es beinhaltet Vorgaben, wie Vertreter Deutschlands sich öffentlich zu Nord Stream 2 äußern sollen, etwa in Interviews.
  5. Im Sommer 2020 versuchte Bundesfinanzminister Olaf Scholz, die Fertigstellung von Nord Stream 2 im Alleingang zu retten. Er unterbreitete der US-Regierung den Vorschlag, den Ausbau deutscher LNG-Terminals mit einer Milliarde Euro zu unterstützen und so den Markt für amerikanisches Flüssiggas zu erweitern. Im Gegenzug sollten die USA die Fertigstellung von Nord Stream 2 nicht gefährden. Interne Dokumente zeigen erstmals: Olaf Scholz hat seinen Plan mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem Auswärtigen Amt und dem Bundeswirtschaftsministerium besprochen. Sie alle haben sich deutlich dagegen ausgesprochen. Trotzdem hat Scholz hinter dem Rücken der Kanzlerin der US-Regierung seinen Milliardendeal unterbreitet. Die Antwort brüskierte den Vize-Kanzler: Man falle auf solchen „Crap“ nicht herein, teilte das Weiße Haus mit.
  6. Im Januar 2021 gründete Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin die „Stiftung Klima- und Umweltschutz MV”, um mit einem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb der Landesstiftung drohende US-Sanktionen zu umgehen und die Fertigstellung von Nord Stream 2 zu sichern. Öffentlich hat Manuela Schwesig vor dem Landesparlament eingeschränkt, die Stiftung werde „die Pipeline nicht bauen“, sie könne nur „einen kleinen Beitrag leisten, die Pipeline zu unterstützen“. Recherchen für dieses Buch belegen, dass Schwesig die Unwahrheit gesagt hat – die Stiftung hat sich im großen Stil direkt am Bau der Pipeline beteiligt. Darüber hinaus zeigen interne Dokumente, dass Schwesig die Öffentlichkeit wiederholt unwahr über angeblich „private“ Treffen mit Gerhard Schröder informiert hat. Mehrere Termine mit dem Gazprom-Lobbyisten wurden geschäftlich geplant.
  7. Neben dem bekannten Fall Hubert Seipel (u.a. die ARD zeigte Seipels Gazprom-Filme, obwohl er neben seinen Honoraren von deutschen TV-Sendern über eine Briefkastenfirma mehr als 600.000 Euro von einem Putin-nahen Oligarchen aus Russland kassierte) enthüllt das Buch einen weiteren Fall von möglicher Einflussnahme auf deutsche Medien. Ein NDR-Journalist, der über Manuela Schwesigs Russlandpolitik positiv im TV berichtete, ließ sich eine Nebentätigkeit als Moderator für einen „Russlandtag“ bezahlen. Der Diplom-Journalist, der für den NDR in leitender Funktion tätig war, ist Mitglied des Landesrundfunkrats, der die Einhaltung der Programmanforderungen beim NDR überwachen soll. Ein ehemaliges Mitglied des Rundfunkrates des NDR, das von Manuela Schwesig mit dem Landesverdienstorden ausgezeichnet wurde, verbreitete mehrfach russische Desinformationen über den Krieg in der Ukraine.
  8. Mögliche Einflussnahme auf die Unabhängigkeit von Medien wie Frankfurter Allgemeine Zeitung, Handelsblatt und Die Zeit legen Recherchen für das Buch ebenfalls nahe. Der Zeit-Verlag kooperierte langjährig mit „Zukunft Erdgas”, einem PR- und Lobbyverband der Gasbranche. Kooperationspartner war ein an Nord Stream 2 beteiligtes Unternehmen. Das Handelsblatt veranstaltete jährlich eine „Jahrestagung Gas“, auf der politisches Spitzenpersonal und Journalisten mit Lobbyisten der Gasindustrie zusammentrafen. Das F.A.Z. Institut, eine Tochtergesellschaft der Verlagsgruppe Frankfurter Allgemeine Zeitung, ging eine „strategische Partnerschaft“ mit Nord Stream 2 ein, um mit Geld von Gazprom in Konferenzen, Workshops und Veröffentlichungen „Dialog“ zu promoten.
  9. Beim Bau von Nord Stream 2 haben sich durch ein Leck an einem der Baggerschiffe mindestens 145 Kilogramm Schmieröl-Klumpen im Greifswalder Bodden verteilt. Manuela Schwesigs Umweltminister Till Backhaus gab daraufhin eine Pressekonferenz mit Vertretern der Nord Stream 2 AG, in der das Schmieröl als nicht wassergefährdend und der Umweltschaden als gering dargestellt wurde. Am selben Tag erreichte Mecklenburg-Vorpommerns Landesregierung ein Bericht des Umweltbundesamts, aus dem hervorging, dass das Schmieröl „stark wassergefährdend” sei und enorme Umweltschäden verursachen könnte. Der Umweltminister gab seinen Mitarbeitern die Anweisung, die Informationen über den tatsächlichen Umweltschaden geheim zu halten.
  10. Interne Dokumente belegen zudem, dass die Baugenehmigung für Nord Stream 2 ursprünglich vorsah, nur Baggerschiffe einzusetzen, die mit ungefährlichen, biologisch abbaubaren Schmierölen funktionieren. Vor Erlass der Genehmigung wurde diese Passage gestrichen.
  11. Um den Bau von Nord Stream 2 zu ermöglichen, hat Deutschland dauerhaft auf die Nutzung eines Teils seines Meeresgebietes verzichtet. Als Ausgleich für die Umweltschäden der Pipeline im Greifswalder Bodden hat das Land ein bis zu 500.000 Quadratkilometer großes Gebiet bei der EU-Kommission als neues Natura-2000-Schutzgebiet registriert. Ein Mitarbeiter eines Gazprom-Unternehmens (in der DDR hochrangiger Stasi-Spion und mit Putin eng befreundet) hat diesen Tausch zusammen mit den SPD-Ministerpräsidenten Mecklenburg-Vorpommerns (Erwin Sellering und Manuela Schwesig) angeregt und umgesetzt.

Laut Recherchen für dieses Buch belegen interne Vermerke, dass die Bundesnetzagentur einen „intensiven Dialog“ mit der Nord Stream 2 AG geführt hat. Die Bundesnetzagentur war für die Genehmigung im deutschen Abschnitt zuständig, allerdings verstieß die Pipeline gegen die Gasrichtlinie der EU und somit gegen EU-Recht. In den gemeinsamen Gesprächen überlegte man sich offenbar einen Trick, um das Problem mit der EU zu umgehen. Jochen Homann, dem Präsidenten der Bundesnetzagentur, war dabei wichtig, „dass über derartige konstruktive Problemlösungen öffentlich Stillschweigen bewahrt werden sollte”.

Nach der Eskalation des Krieges im Februar 2022 wollte Manuela Schwesig die umstrittene „Stiftung Klima- und Umweltschutz MV” auflösen. Behilflich sollte dabei die Juristin Birgit Weitemeyer sein, die das Kapital der Stiftung als „Blutgeld“ bezeichnete und für 10.000 Euro ein angeblich unabhängiges Gutachten im Auftrag der Landesregierung erstellte. Nord Stream 2 sei ein Symbol für die prekäre Lage, „die Deutschland durch die zunehmende Abhängigkeit von russischem Gas für die Stromerzeugung in Kauf genommen hat, obwohl bereits seit 2014 deutlich wurde, dass Russland territoriale Bestrebungen in die Ukraine hatte“. Andere Staaten seien „weit weniger abhängig von russischen Gaslieferungen“, hat Weitemeyer laut Recherchen für dieses Buch in ihrem Gutachten geschrieben. Diese und weitere Passagen seien politisch für sie nicht haltbar, soll Schwesig sinngemäß erwidert haben. Das Gutachten, das Weitemeyer der Öffentlichkeit vorgestellt hat, wurde deshalb gekürzt.

Über die Autoren:

Steffen Dobbert, geboren in Wismar, ist seit 2007 als Autor und Redakteur für DIE ZEIT tätig. 2017 wurde er mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. 2022 veröffentlichte Klett-Cotta »Ukraine Verstehen: Geschichte, Politik und Freiheitskampf«

Ulrich Thiele, geboren 1990, war Mitarbeiter beim Politmagazin Cicero. Seit Juni 2023 ist er Reporter beim Business Insider. Seine Recherchen über Nord Stream 2 ergaben, dass die Klimastiftung in Mecklenburg-Vorpommern zehn Millionen Euro Schenkungsteuer für eine Gazprom-Zuwendung schuldig war. Er enthüllte zudem, dass eine Finanzbeamtin die Steuererklärungen im Kamin verbrannt hatte. 

(Nord Stream – wie Deutschlands Putins Krieg bezahlt“, 6. Druckauflage, 2025, Erscheinungstermin: 15.2.2025, 400 Seiten, Klappenbroschur, ISBN: 978-3-608-96627-5, 18 Euro, Spiegel-Bestseller))