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Letzte Aktualisierung: 24.01.2025

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Die Flucht aus Haiger

Ein zu Herzen gehendes Buch über finstere Zeiten

von Norbert Dörholt

(13.12.2024) Weihnachten rückt unaufhaltsam näher, und immer noch fehlt vielen die Idee für ein Geschenk an ihre Lieben. Warum das so ist: Jeder hat schon alles, und wenn ihm etwas fehlt, wartet er nicht auf das Christkind, den Osterhasen oder auf seinen Geburtstag wie in der „guten“ alten Zeit. Nein, er geht ins nächstbeste Geschäft und kauft sich das Gewünschte. Für all jene, aber nicht nur für sie, haben wir hier einen Tipp: Verschenken Sie ein Buch (oder kaufen Sie es für sich), nicht irgendeines, nein, ein ganz besonderes. Es trägt den Titel „Die Flucht aus Haiger“.

Bildergalerie
Schon das Cover vermittelt viel von der Atmosphäre des Buches.
Foto: Geschichtlicher Arbeitskreis Haiger und sein Raum e.V./Umschlaggestaltung: Ideegrafik Kreativagentur GmbH, Mittenaar
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Die Autorin Renate Steinseifer
Foto: Privat
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Aktueller geht´s kaum in Zeiten des wiederaufkeimenden Antisemetismus in unserem Land und vor dem Hintergrund des Nahostkriegs. Die Autorin Renate Steinseifer hat sich diesem Thema mit viel Empathie (und enormen Fleiß!) genähert. Wohl wissend, dass nichts den Menschen so sehr interessiert wie der Mensch selber, hat sie Leben, Flucht und Tod vor, während und nach dem Zusammenbruch des sogenannten 3. Reichs in ihrer Heimatstadt Haiger geschildert.

Haiger, um ein wenig Heimatkunde zu betreiben, ist ein hübsches 20.000 Einwohner zählendes Städtchen im nördlichen Teil des mittelhessischen Lahn-Dill-Kreises zwischen Wetzlar und Siegen. „1932 waren noch 48 jüdische Mitbürger unsere Nachbarn. Was haben sie auf der Flucht erlebt? Wo fanden sie eine neue Heimat?“, fragte sich die Autorin und stürzte sich in eine beispiellose Recherchearbeit. Akribisch verfolgte sie die Spuren eines jeden einzelnen der Verfolgten, sprach mit Zeitzeugen und nahm weltweit Kontakt mit Hinterbliebenen auf. Nichts also mit kalter Statistik und philosophisch-politischem Geschwafel, sondern eine zu Herzen gehende Schilderung persönlicher Schicksale.

Was besonders berührt sind auch die vielen Fotos der Geschundenen: Kinder, Omas und Opas mit ihren Enkelchen, strahlende Bräute in weißen Kleidern, Jugendliche in vertrautem Beisammensein mit Schulfreunden, Gruppenaufnahmen mit Familie und Freunden, Häuser, Straßenszenen und dergleichen mehr. Normaler geht es nicht. Friedliches Zusammenleben, Freundschaft, Hilfsbereitschaft zwischen Nachbarn und eigentlich allen Bewohnern des Städtchens (auch Schicksale aus der Region, beispielsweise aus Herborn, Dillenburg und Ehringshausen, werden so geschildert). Und doch geschieht in dieser Idylle mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten Unbegreifliches.

Unbegreifliches und Entsetzliches. „Unfassbares“ schreibt Haigers Bürgermeiser Mario Schramm im Vorwort. „Unfassbar, aber Teil unserer deutschen Geschichte, auch Teil unserer Heimatgeschichte.“ Renate Steinseifer hat mit ihrem Buch dafür gesorgt, dass dies alles nicht in Vergessenheit gerät, hat den Opfern ein Gesicht gegeben und ihre Würde wiederhergestellt. Bürgermeister Schramm formulierte das so: „Viele Menschen haben es sich zur Aufgabe gemacht, hinzusehen, zu erinnern, zu gedenken. Nicht zu schweigen und nicht zu verschweigen, was damals geschehen ist. Und zu verhindern, dass sich so etwas in unserer Stadt und in unserem Land wiederholen kann. Zu diesen Menschen, die unermüdlich geforscht und zusammengetragen haben, was zu vergessen droht, gehört Renate Steinseifer. In dem uns nun vorliegenden Buch hat sie sich auch beispielhaft solidarisiert und den Opfern des Rassenwahns eine Stimme und ein Gedenken gegeben. Mit ihrer Unterstützung und der Unterstützung der Haigerer Johann-Textor-Schule, hier besonders durch die Lehrerin Martina Stettner, konnten im Juni 2020 zehn ´Stolpersteine´ des Künstlers Gunter Demnig in der Haigerer Innenstadt verlegt werden.“

Die Idee von Renate Steinseifer, die Unfassbarkeit der damaligen Gräuel deutlich zu machen, war, einfach das Alltags- und Familienleben der acht jüdischen Familien, die von etwa 1860 bis 1940 in Haiger lebten, den Lesern näher zu bringen, ihre Freuden und Sorgen, ihre Feste und ihren Glauben. Umso stärker wirkt vor diesem Hintergrund ihr schreckliches Schicksal.

Das erforschte die Autorin auch dadurch, dass sie in die Länder ging, in die die Verfolgten während der Zeit des Nationalsozialismus geflohen waren, und dort mit Zeitzeugen und Hinterbliebenen sprach. Sechs Monate hat Renate Steinseifer in Israel gelebt. 2018 besuchte sie dort Familien der Überlebenden, die ihr atemberaubende Geschichten über ihre eigene Rettung, aber auch über die grausame Wirklichkeit ihrer Lieben, die keine Hilfe erfuhren, berichteten. In dem letzten Brief vor ihrer Deportation im Juni 1942 schreibt Selma Hirsch: „Vergesst mich nicht!“. Auch dafür hat Renate Steinseifer (Jahrgang 1951), die seit 30 Jahren in Haiger lebt, mit ihrem Buch gesorgt.

(Die Flucht aus Haiger – 6 Länder und das 7. ist kein Land zum Leben“, Renate Steinseifer, 419 Seiten, 23.80 Euro, ISBN 978-3-944603-42-1, Bezug:  Steinseifer-buchprojekt@gmx.de )