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Letzte Aktualisierung: 19.04.2024

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2. Bücherzettel: Frankfurt zum Lesen

von Dr. Thomas Scheben

(28.07.2021) Ob Corona-Einschränkungen, Regenwetter oder schlichtweg Lust auf ein paar gemütliche Stunden zum Abschalten: Einen Anlass zum Lesen gibt es immer – und Material dazu in Hülle und Fülle. Auch Frankfurt hat in diesem Sommer seinen Platz zwischen den Buchdeckeln.

Büchercover Bücherzettel Sommer 2021
Foto: Stadt Frankfurt
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Wie fast immer, bieten die Stadt selbst und ihre Geschichte reichlich Themen für wissenschaftliche und unterhaltsame Exkurse in die Vergangenheit und zu Sehenswertem, das nicht nur für Neu-Frankfurter noch Überraschungen bereithält.  Und wer sich einfach mal entspannt eine Geschichte erzählen lassen möchte, kommt ebenso auf seine Kosten.
 
Von Orchideen, Kakteen und Biotopen
Als der Frankfurter Palmengarten vor 150 Jahren gegründet wurde, lag das Zeitalter von Massentourismus und allgegenwärtigen Bildmedien noch in ferner Zukunft. Die Faszination exotischer Pflanzen als Prestigeobjekte und Blick in unbekannte Welten indes hatte schon seit Jahrhunderten die Mächtigen zur Bestückung von Parks und Orangerien und später eben auch die Bürgerschaften reicher Städte zu solchen Gründungen angeregt.

So war auch der Frankfurter Palmengarten ein bürgerschaftliches Projekt, das schnell über die Funktion des Schaugartens und der Naherholung hinauswuchs. Hier wurde nicht nur flaniert und bewundert, sondern im Gesellschaftshaus gern und ausgiebig gefeiert, große Stars und Orchester sorgten für Kulturgenuss von Klassik bis zu Jazz und Pop, und Buffalo Bill’s legendäre Wildwest-Show zog Tausende von Zuschauern an. Über die Jahrzehnte wuchsen der Anlage auch neue Aufgaben zu; so sensibilisiert sie heute als Lernort für botanische und ökologische Herausforderungen.

Die Autorin informiert in dem reich bebilderten Band über die Geschichte des Palmengartens, beschreibt seine unterschiedlichen Aufgaben und Angebote, schildert einen typischen Tagesablauf und lässt vor allem immer wieder Menschen zu Wort kommen, die als Beschäftigte, Besucher und Nutzer mit dem Palmengarten verbunden sind. So entsteht ein unterhaltsames Porträt einer komplexen Organisation zum Blättern, Schmökern, Fest- und Durchlesen. Schöner als dieses Lesevergnügen ist eigentlich nur noch ein persönlicher Besuch in „Frankfurts grünem Herz“.

Sabine Börchers: Der Palmengarten. Wo Frankfurts grünes Herz schlägt, Societäts-Verlag 2021, 272 Seiten, 25 Euro
 
Der heimliche Metropolen-Irrsinn
Eine abgenutzte Ehe, die in einem fast perfekten Mord enden soll, Klatsch und Tratsch, der einen vermeintlichen Lottogewinner an den Rand seiner Existenz bringt, ein Nachbarschaftskrieg im Kleingartenverein, der ebenso tödlich endet – das sind die Fallen, aus denen der  Stadtneurotiker nicht mehr herausfindet, wenn er sich einmal zu tief in seiner Rechthaberei, seinem Hedonismus oder Egoismus verstrickt hat.

Der Band präsentiert ins Absurde überdrehte, satirische Geschichte aus dem mittelständischen Großstadtmilieu, das der wesentlichen Sorgen des Alltagslebens enthoben ist. Diese Gestalten können sich damit bis zum Exzess in Dinge hineinsteigern, für die die meisten Zeitgenossen wohl weder die Zeit noch die Energie aufbringen können – und von denen in einer Stadt wie Frankfurt wohl jeder ein paar Exemplare kennt, die dann in Situationen geraten, wie sie vielleicht so fast nur in der Mainmetropole vorstellbar sind.
Die enden freilich nicht immer auf dem Friedhof, manchmal gibt es auch ein, wenn auch unerwartetes Happy End, wenn der Fußball-Mini sich trickreich gegen seine überehrgeizigen Eltern durchsetzt, oder man bei einem zynischen Radrennen als ersten Preis eine Wohnung gewinnen kann. Flotten Slapstick bietet ein ruinöser Fahrer-Beifahrer-Konflikt oder ein feucht-fröhliches Straßenfest, das eine Politikerkarriere ins Wanken bringt.

Die Geschichten eignen sich bestens für ein paar S-Bahn-Stationen oder eine Mittagspause. Dabei verwischt der fast schon unterkühlt nüchterne Berichtston, der bisweilen die tragische Komik im Kopf des Lesers entstehen lässt, die Grenze zur Realität und lässt dem Leser einen leisen Schauer über den Rücken rieseln: Ist das nicht wie bei …. ? Oder gar: Habe ich nicht vielleicht selbst gerade …… ?

Andreas Heinzel: Eine Stadt dreht durch - Frankfurter Short Storys, mainbook Verlag 2021, 252 Seiten, 12 Euro
 
Was wohl aus ihnen geworden ist
Mit der siegreichen US-Armee kehrte der 1931 über Palästina in die USA ausgewanderte einstige jüdische Absolvent der Musterschule in seine frühere Frankfurter Heimat zurück. Walter Jessel, Leutnant und Nachrichtenoffizier, fasst den Plan, die ehemaligen Mitschüler seiner Abiturklasse ausfindig zu machen, und sie zu ihrer Zeit im Dritten Reich zu befragen.

Der Autor sagt selbst, dass er kein repräsentatives Bild der Kriegsgeneration erwartet hatte. Dennoch trifft er unter den Schulkameraden, ihren Familien und Nachbarn sowie einigen Lehrern auf eine beträchtliche Bandbreite von verbreiteten Charakteren der NS-Zeit: vom überzeugten Nazi, über Mitläufer und Durchwurstler bis hin zum Widerständler; einer seiner Klassenkameraden wurde im KZ ermordet, einige sind im Krieg gefallen oder noch in Gefangenschaft. Ebenso wie die gelungenen Psychogramme dieser Personen enthält das Buch äußerst plastische Schilderungen des Alltags im völlig zerstörten Frankfurt, des Verhältnisses zwischen Einwohnern und Besatzern, und streicht immer wieder den Kontrast zu den fast idyllischen Landschaften und Dörfern im Umland heraus, in dem etliche der ausgebombten Kameraden eine provisorische Bleibe gefunden hatten.

Immer wieder kommen die Gespräche im Verlauf seiner Nachforschungen neben der Verarbeitung der NS-Zeit auch auf die unterschiedlichen Hoffnungen, Erwartungen und Befürchtungen zur Zukunft des besiegten und zerstörten Landes, die er mit seinen eigenen Vorhersagen ergänzt – viele fragten sich, ob Deutschland jemals wieder aufgebaut werden könnte, und ob es für junge Menschen überhaupt noch ein Zukunftsperspektive geben würde – das „Wirtschaftswunder“ der 50er Jahre war noch weit weg. Die wenigsten dieser Prognosen davon trafen ein, werfen aber auch hier ein Schlaglicht auf die Zukunftserwartungen, welche die Menschen damals bewegten. Einige, vor allem unter den Lehrern, erwiesen sich indes als verblüffend hellsichtig und formulierten Visionen, die denen der späteren EWG und heutigen EU recht nahekommen.

Informationen über den Autor, sein weiteres Schicksal und das seiner Familie bieten die Einführung des amerikanischen Herausgebers und ein Nachwort der Übersetzerin, von der man sich etwas mehr Sorgfalt bei der Übertragung der US-Militärterminologie gewünscht hätte. Ungeachtet dessen bietet diese „Spurensuche“ ein äußerst farbiges Kaleidoskop und tiefe Einblicke in eine Zeit größter Unsicherheit und Verunsicherung – und eine jederzeit spannende, immer wieder mit Überraschungen aufwartende Lektüre.

Walter Jessel: Spurensuche 1945. Ein jüdischer Emigrant befragt seine Abiturklasse, Fachhochschulverlag 2020, 246 Seiten, 20 Euro
 
Von der Gleichschaltung des runden Leders
In den zwanziger und dreißiger Jahren war Frankfurts Eintracht bereits einer der bedeutendsten Sportvereine Deutschlands. Gehoben, bürgerlich geprägt mit vielen Aktiven, Funktionären und Sponsoren aus dem jüdischen Bürgertum war sie eine der größten Vereinigungen der Stadt Frankfurt. Da die Ideologie der Nationalsozialisten dem Sport eine große Rolle als militärisches Fitnessprogramm zuwies, und das Regime bestrebt war, alle gesellschaftlichen Bereiche unter seine Kontrolle zu bringen, wozu auch die Verdrängung der Juden aus allen Bereiche zählte, rückten die Vereinsleitungen schnell in den Fokus dieser „Gleichschaltungen“.

Die vier Vereinspräsidenten, später „Vereinsführer“, darunter auch der langjährige Nachkriegspräsident Rudi Gramlich, sind das Thema dieser auf gründlicher Archivrecherche beruhenden Studie. Der Autor richtet einen starken Fokus auf die Personen selbst. Je nach Dichte der verfügbaren Quellen kommt er einigen Persönlichkeiten dabei sehr nahe, während er bei anderen Mühe hat, bei der Füllung von Lücken im Archivmaterial die Interpretation nicht in Richtung Vermutungen und Unterstellungen zu überziehen. Insofern ist das Buch auch ein Lehrstück über die Möglichkeiten und Grenzen biographischer Forschung.

Man erfährt relativ wenig über die Vereinsstrukturen und damit auch über den tatsächlichen Wirkungsgrad und die Reichweite ihres individuellen Handels. Um hier mehr zu erfahren, kann man indes auf bereits veröffentlichte wissenschaftliche Literatur zur Eintracht- und Sportgeschichte Frankfurts zurückgreifen, der dieser Arbeit noch einige Detailaspekte hinzufügt. Sie gibt damit Einblicke in die Mechanismen, mit denen das NS-Regime den Sport als zentrales gesellschaftspolitisches Aktionsfeld unter seine Kontrolle brachte und seinen ideologischen Vorstellungen dienstbar gemacht hat, gewährt teilweise sehr tiefe Einblicke in die Persönlichkeit von Akteuren, die diesen Prozess in Frankfurt auf der Seite des Sports mitgestaltet haben und leistet damit einen detailreichen Beitrag zur Sport- und Gesellschaftsgeschichte der Mainmetropole.

Maximilian Aigner: Vereinsführer. Vier Funktionäre von Eintracht Frankfurt im Nationalsozialismus, Wallstein, 304 Seiten, 38 Euro
 
Apfelwein-Diplomatie mit dem Dolch im Gewande
Mord und Totschlag unter traumatisierten Bier- und Apfelweintrinkern und politische Konflikte und Intrigen rund um ein neu geschaffenes Apfelwein-Dezernat in der Frankfurter Stadtverwaltung: Eine solche Krimi-Story kann einfach nur am Main angesiedelt werden. Kriminalkommissar Rauscher, amtlich beglaubigter Nachfahre der berühmt-besungenen Sachsenhäuser Wirtin und aufgrund von Ereignissen aus einem früheren Band der Krimi-Reihe vom Dienst suspendiert, wird zu Frankfurts erstem Apfelwein-Botschafter erkoren.

Viel Zeit, sich in sein neues Amt einzuarbeiten, bleibt ihm indes nicht. Kaum ernannt, wird der neue Dezernent ermordet aufgefunden. Rauscher bleibt nichts Anderes übrig, als seine Kollegen bei den Ermittlungen in einem Dschungel von Verdächtigungen und Vermutungen zwischen Familienkonflikten und lokalpolitischer Giftküche zu unterstützen – und je näher die der Lösung zu kommen scheinen, desto verworrener stellt sich der Fall dar, bis er in ein ebenso dramatisches wie aktionsgeladenes Finale mündet.

 Der Autor entwickelt einen großen Teil der Handlung über die Dialoge unter den Akteuren der Geschichte, um dann immer wieder mit recht deftigen Schilderungen von Handlungsvorgängen das Tempo zu erhöhen, so dass der Spannungsbogen immer erhalten bleibt. Frankfurt-Kenner werden sich dazu noch über Personen, einige davon real, und Lokalkolorit amüsieren, und alle anderen Leser einen spannenden Krimi genießen.

Gerd Fischer: Der Apfelwein-Botschafter, mainbook 2021, 238 Seiten, 10 Euro
 
Frankfurts Polizei zwischen Mittäterschaft und Widerstand
Seit einigen Monaten ist die Polizei besonders im Rhein-Main-Gebiet wiederholt ins Gerede gekommen, weil Beamte sich an rechtsextremen Internetgruppen beteiligt haben. Einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung des Problemkreises „Polizei im Nationalsozialismus“ auf der einen Seite, aber auch zur Frage der Möglichkeiten und Pflicht zum Widerstand gegen die Verstrickung in staatlich betriebenes Unrecht will diese Darstellung leisten, mit der das Polizeipräsidium zwei Frankfurter Stadthistoriker beauftragt hat.

Diese stellen im ersten Teil des Buches dar, wie die deutsche und damit auch die Frankfurter Polizei sich ohne allzu großes Widerstreben von einer Institution zum Schutz der Bürger und des Rechts in ein Instrument zur Erniedrigung, Verfolgung, Vertreibung und schließlich Ermordung der eigentlich Schutzbefohlenen verwandelte. Im zweiten Teil werden drei Polizisten porträtiert, die auf ganz unterschiedliche Weise dem NS-Regime entgegentraten. Ein Leiter der Politischen Polizei, heute würde man „Staatsschutz“ sagen, der während der Weimarer Republik den Gewalttaten der NSDAP einen Riegel vorzuschieben versuchte und die Täter unnachsichtig verfolgte; er wurde nach der „Machtübernahme“ 1933 bald entlassen. Ein Hauptwachtmeister, der Meldekarteien fälschte, um jüdische Mitbürger vor der Deportation zu bewahren. Ein Kriminalbeamter, der eine Widerstandsgruppe im Umfeld des 20. Juli leitete, unentdeckt blieb und seine Aktivitäten auch nach dem gescheiterten Attentat fortsetzte. Alle riskierten ihre Leben, konnten aber nach dem Krieg ihre – noch beachtlichen – Karrieren im Polizeidienst weiterführen.

Das zwar wissenschaftlich belegte, aber dennoch gut, bisweilen spannend zu lesende Buch bietet ein Lehrstück darüber, wie verwundbar selbst eine demokratische und rechtsstaatlich verfasste Institution ohne Demokraten sein kann. Es bietet aber zugleich auch ermutigende Beispiele dafür, wie selbst scheinbar kleine, untergeordnete Beamte dem übermächtigen Unterdrückungsapparat Sand ins Getriebe streuen konnten.

Lutz Becht / Thomas Bauer: Die Frankfurter Polizei und drei aufrechte Beamte im Nationalsozialismus, Henrich 2021, 108 Seiten, 14,95 Euro
 
Die Not mit der Notdurft
Kein Gesprächsthema in feiner Gesellschaft, aber auch die feinsten Leute wollen wissen, wo man kann, wenn man mal muss. Und das umso genauer, wenn die normalerweise dafür vorgesehenen Örtlichkeiten für Menschen unerreichbar sind, die statt auf zwei Beinen auf vier Rädern unterwegs sein müssen.

Zwar ist heute viel von Barrierefreiheit die Rede, es gibt sogar gesetzliche Vorschriften, aber nach wie vor sind viele Geschäftsräume, Restaurants und Wohngebäude, aber auch große Teile des öffentlichen Raums für Rollstuhlfahrer kaum zugänglich. Unüberwindbare Treppen, zu enge Türen und Durchgänge, unerreichbare Schalter und Armaturen und eben das Örtchen für das elementarste aller Bedürfnisse: ultimative Ausschlussgründe für einen Besuch, sei es zum Essen, bei Veranstaltungen oder bei einem Abend in der Privatwohnung von Freunden. Reisen und selbst kleinere Ausflüge erfordern generalstabsmäßige Erkundungen, um vor unliebsamen Überraschungen sicher zu sein.

Unterhaltsam und zugleich sachlich fundiert berichtet das Autorenpaar detailliert aus eigener Erfahrung von ganz konkreten Beispielen aus Frankfurt und Umgebung in Text, Bild und Grundrissen über bauliche Mängel, unüberlegte Raumplanung oder schlichte Gedankenlosigkeit beim Abstellen von Gegenständen, oft nur Kleinigkeiten, die sogar an sich barrierefreie Räumlichkeiten in eine No-Go-Area verwandeln können. Es bleibt indes nicht bei Negativbeispielen, es werden auch gelungene Einrichtungen vorgestellt. Für alle, die für die Planung öffentlich zugänglicher Bauwerke zuständig sind, aber auch für private Bauherren bietet das Buch wertvolle Hinweise, wie mit oft nur ganz geringen Modifikationen Barrierefreiheit geschaffen werden kann. Denn treffen kann es schließlich jeden jederzeit: Unfall, Krankheit oder Altersgebrechen können Junge und Gesunde unvermittelt auf längere Zeit oder dauerhaft in den „Rolli“ zwingen.

Claudia Hontschik, Bernd Hontschik: Kein Örtchen. Nirgends., Westend Verlag 2020, 112 Seiten, 16 Euro (ffm)

 

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