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Letzte Aktualisierung: 24.04.2024

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Überlebenshilfe auch ohne Krankenschein

Substitution und ärztliche Behandlung für nichtversicherte Drogenabhängige

von Ilse Romahn

(20.09.2021) Schwer kranke Drogenabhängige können sich in Frankfurt auch ohne Krankenversicherung ärztlich behandeln und substituieren lassen. Gesundheitsdezernent Stefan Majer hat allgemeinmedizinische Sprechstunden für Nichtversicherte mit insgesamt 30 Substitutionsplätzen als dauerhafte, von der Stadt finanzierte Leistung etabliert.

„Wir können als Gesellschaft nicht zusehen, dass schwer kranke Menschen notwendige Hilfen nicht erhalten und verelenden, nur weil sie keinen formalen Anspruch darauf haben“, erklärt Gesundheitsdezernent Majer.
 
Die medizinische Hilfe und das Suchthilfeangebot mit Ersatzstoffen (Substitution) für Bedürftige ohne Krankenversicherung hatte der Verwaltungsstab Anfang des Jahres zunächst befristet als Nothilfe während der Corona-Pandemie bewilligt. Mit Beginn des Lockdowns und reduzierten Plätzen in den Hilfeeinrichtungen haben viele Drogenabhängige ihr Leben mehr oder weniger auf die Straße verlagert, sagt die Leiterin des Drogenreferates Regina Ernst. „Es hat sich schnell gezeigt, dass wir mit den ärztlichen Sprechstunden und dem Substitutionsangebot auch ohne Krankenschein ein wichtiges Überlebenshilfeangebot realisieren konnten“, sagt Ernst.
 
Das bestätigen die beiden Substitutionsärzte, Michael Schmidt, der für den Verein JJ im Drogennotdienst Elbestraße praktiziert, und David Lang von der Malteser Suchthilfe in der Schielestraße 22. „Die Frankfurter Drogenszene ist so vielfältig und multikulturell wie die Frankfurter Stadtgesellschaft auch“, sagt Schmidt. Menschen aus aller Welt gehören dazu, viele aus anderen EU-Ländern ohne gesetzlichen Anspruch auf Hilfe, Abhängige ohne Aufenthaltstitel, Geflüchtete, aber auch Anspruchsberechtigte, die seit Jahrzehnten in der Szene leben und sich nie um eine Krankenversicherung gekümmert haben.
 
Etwa 80 Drogenabhängige ohne Versicherungsschutz haben die Substitutionsärzte Schmidt und Lang durch das neue niedrigschwellige Behandlungsangebot seit Jahresanfang erreicht. Nicht alle entscheiden sich gleich oder dauerhaft für eine Substitution, manche lassen sich einfach nur eine Zeit lang medizinisch versorgen. Dennoch sind aktuell von den 20 Substitutionsplätzen für Nichtversicherte im Drogennotdienst 14 und alle zehn weiteren in der Schielestraße belegt.
 
Mehr als 20 der bislang erreichten 80 Abhängigen sind inzwischen krankenversichert und konnten in eine reguläre Behandlung wechseln. „Sobald ein Platz in der humanitären Substitution frei wird, rückt sofort jemand nach“, sagt Lang.
 
Die Patientinnen und Patienten, die in die Sprechstunden kommen, sind im Schnitt 20 Jahre und länger drogenabhängig, fast alle konsumieren polytoxisch – also verschiedene Drogen – und sind nach Jahrzehnten in der Szene in der Regel körperlich und seelisch schwer krank und in schlechter Verfassung. Schmidt arbeitet eng mit den Streetworkerinnen und Streetworkern von OSSIP zusammen, die die Drogenabhängigen aus dem Bahnhofsviertel in die Sprechstunde vermitteln und sie unterstützen, ihre sonstigen Lebensumstände und auch behördlichen Angelegenheiten zu klären. Lang wiederum ist eng vernetzt mit den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern im Eastside in der Schielestraße, Europas größter niedrigschwelliger Drogenhilfeeinrichtung, die Patientinnen und Patienten in seine Sprechstunde vorbeischicken. „Mitunter sind die Menschen in so desaströser Verfassung, dass die humanitäre Substitution lebensrettend ist.“ Lang erzählt von einem 42-Jährigen, der mit schwerer Sepsis, Lungenentzündung und weiteren lebensbedrohlichen Symptomen in die Sprechstunde kam. Neben der Akutversorgung im Krankenhaus ließ sich sein Zustand dank der Substitution so stabilisieren, dass er weiterbehandelt und lebensnotwendige Medikamente erhalten konnte. Ebenso der 36-Jährige, der nach einem schweren Rückfall seinen Versicherungsschutz verlor und lebensnotwendige Medikamente für seine HIV-Behandlung nicht mehr vom Arzt verschrieben bekam. Auch in diesem Fall, so Lang, wurde der Patient durch die Methadon-Substitution wieder so stabil, dass er gemeinsam mit seinem Sozialarbeiter den Versicherungsschutz wiederherstellen und seine HIV-Behandlung fortsetzen konnte.
 
„In der Regel gelingt es mit der Substitution, dass sich die Menschen schnell körperlich erholen, sie sich besser fühlen und gesünder aussehen“, bestätigt Schmidt. Doch die Bandbreite der Fälle ist groß: „Manchmal scheitert die Behandlung schon beim Versuch, Blut abzunehmen und manchmal erlebt man ein richtiges Happy End.“ Wie bei der über 50-jährigen Patientin, die seit 30 Jahren schwer drogenabhängig war. Anfangs kam sie aus ihrer Heimat immer nur für eine Weile ins Frankfurter Bahnhofsviertel, blieb schließlich ganz, rutschte komplett in die Szene ab, konsumierte Crack, Heroin und verschiedene andere Substanzen und schlug sich bei Freunden und in Notschlafstätten durch. Die Humanitäre Substitution bot der EU-Ausländerin ohne Anspruch auf Krankenversicherung erstmals eine Perspektive, sagt Schmidt. Nach kurzer Zeit konsumierte sie nicht mehr und nach nur drei Monaten Substitution hatte sie einen qualifizierten Job auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden, ist seither sozial- und krankenversichert, hat eine Wohnung und erhält ihr Substitut im „Take Home“-Verfahren. Es ist seine „Traumgeschichte“, sagt Schmidt – und aus seiner Sicht „der beste Beleg“, wie lohnend und wichtig das Angebot ist. (ffm)