Das Online-Gesellschaftsmagazin aus Frankfurt am Main

Letzte Aktualisierung: 16.04.2024

Werbung
Werbung

„Die Transformation der Chemieindustrie ist eine Herkulesaufgabe“

Vereinigung Chemie und Wirtschaft, Infraserv Höchst und Provadis Hochschule veranstalten Digitalkonferenz

von Ilse Romahn

(18.11.2020) Einen derart direkten Draht nach Brüssel wünscht man sich in der deutschen Chemieindustrie als Standleitung, denn nicht immer finden Unternehmen so schnell Gehör im Europäischen Parlament wie bei der Digitalkonferenz der Vereinigung Chemie und Wirtschaft (VCW) der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh).

Jürgen Vormann, Vorsitzender der Geschäftsführung von Infraserv Höchst, und Prof. Dr. Hannes Utikal (rechts), Leiter des Zentrums für Industrie und Nachhaltigkeit der Provadis Hochschule, bei der Digitalkonferenz der Vereinigung Chemie und Wirtschaft (VCW).
Foto: Infraserv Höchst, 2020
***

Unter anderem war Jutta Paulus zugeschaltet, die für die Grünen dem Umweltausschuss des Europaparlaments angehört und die virtuelle Podiumsdiskussion zwischenzeitlich kurz verlassen musste, um an einer Abstimmung teilzunehmen. Der Meinungsaustausch zwischen Politik, Unternehmen und Verbände war einer der vielen interessanten Agenda-Punkte bei der Veranstaltung, die vom Zentrum für Industrie und Nachhaltigkeit der Provadis Hochschule konzipiert und Infraserv Höchst, Standortbetreibergesellschaft des Industrieparks Höchst, unterstützt wurde. „Die CO2-neutrale Chemieindustrie 2050: Den Transformationspfad proaktiv gestalten“ lautete das Motto der Veranstaltung, die zahlreiche Referate, Workshops und Möglichkeiten zum virtuellen Austausch bot.

Jürgen Vormann: Wettbewerbsfähigkeit der Chemiebranche im Fokus
Den direkten Draht nach Brüssel nutzte Jürgen Vormann, Vorsitzender der Geschäftsführung von Infraserv Höchst, für ein klares Statement aus Sicht der Chemie-Unternehmen. „Wir unterstützen die klimapolitischen Ziele der Bundesregierung und engagieren uns schon seit Jahren sehr intensiv dafür, die Treibhausgas-Emissionen weiter zu reduzieren“, so Vormann. „Doch es ist wichtig, bei der gesellschaftlichen Debatte und den politischen Entscheidungen neben den ökologischen Aspekten auch die ökonomischen und sozialen Belange angemessen zu berücksichtigen.“ Die Politik müsse sich auf den unterschiedlichen Ebenen der Folgen bewusst sein, die gesetzliche Vorgaben in der Praxis haben. „Die politischen Entscheidungsträger dürfen bei den Klimaschutz-Bestrebungen die Wettbewerbsfähigkeit der Chemiebranche, der als Innovationstreiber bei der Lösung zentraler Zukunftsfragen eine wichtige Rolle zukommt, nicht aus den Augen verlieren.“ Ein Appell, den Jutta Paulus zumindest dahingehend zustimmte, dass „ein gemeinsamer Rahmen“ für gesetzgeberische Initiativen wichtig sei. Gleichzeitig ließ die Europaparlamentarierin aber auch durchblicken, dass der „European Green Deal“ für die Chemieindustrie noch einige Herausforderungen mit sich bringen werde. Unterstützung erhielt Jürgen Vormann von Carola Dittmann von der Stiftung Arbeit und Umwelt der Chemie-Gewerkschaft IG BCE, die sich auch für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs aussprach, und Dr. Stefan Ruppert, Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektor von B. Braun Melsungen. Der hessische FDP-Landesvorsitzende und ehemalige Bundestagsabgeordnete konnte den Austausch zwischen Industrie und Politik aus beiden Perspektiven beleuchten. Für den Verband der Chemischen Industrie (VCI) nahm Dr. Jörg Rothermel, Abteilungsleiter für Energie und Klimaschutz, an der virtuellen Podiumsdiskussion teil. Der Verband organisiert bereits verschiedene Austauschformate und setzt sich für einen konstruktiven Dialog zwischen Wirtschaft und Politik ein.

VCI: „Treibhausgasneutralität ist machbar“
Rothermel hatte die Videokonferenz mit seinem Vortrag zu „Chemistry4Clmate: der Weg in eine treibhausneutrale Chemieproduktion“ eröffnet. „Treibhausgasneutralität ist machbar“, sagte der VCI-Vertreter, der darauf verweisen konnte, dass die chemische Industrie in Deutschland die Treibhausgas-Emissionen im Vergleich zum Jahr 1990 bereits um 50 Prozent reduzieren konnte, obwohl die Produktionsmengen im gleichen Zeitraum um 70 Prozent gestiegen sind. Für eine CO2-neutrale Chemieproduktion müssten allerdings enorme Mengen an „grünem“ Strom sowie Wasserstoff verfügbar sein, zu wettbewerbsfähigen Konditionen. Hier fehlen bislang Infrastruktur und Produktionskapazitäten, notwendige Technologien stehen zum Teil heute noch nicht zur Verfügung. „Auf dem Weg zur CO2-neutralen Chemieproduktion müssen wir noch einige technische und ökonomische, aber auch politische Herausforderungen bewältigen“, so Rothermel.

Neue Geschäftschancen für Unternehmen
An diese These konnte Prof. Dr. Stefan Lechtenböhmer, Abteilungsleiter zukünftige Energie- und Industriesysteme des Wuppertal Instituts, bei seiner Key Note zum Thema „Herausforderungen der Klimaneutralität für die Chemische Industrie“ direkt anknüpfen. Aus seiner Sicht ist ein grundlegender Umbau der Chemieindustrie erforderlich, woraus sich für viele Unternehmen auch neue Geschäftschancen ergeben. 

„Unternehmen benötigen eine individuelle Transformationsagenda“
„Auch Unternehmen müssen individuell prüfen, wie sie bis zum Jahr 2050 CO2-neutral werden können. Das ist vielfach eine technische und ökonomische Herkulesaufgabe Verfügbare Technologien und Produktionsprozesse sind ebenso zu beleuchten wie auch die neue Geschäftsmodelle“, so Prof. Utikal, Leiter des Zentrums für Industrie und Nachhaltigkeit der Provadis Hochschule und Moderator der Digitalkonferenz. Entscheidend sei, dass die Unternehmen diese Aufgabe im engen Austausch mit Wissenschaft sowie Gesellschaft und Politik angingen, da sie nur im Schulterschluss die gewaltige Umstellung erreichen könnten.

Nach den Key Notes konnten die Teilnehmer aus vier praxisnahmen Unternehmensvorträgen auswählen. Prof. Thomas Bayer, Infraserv Höchst, beschrieb für die Industriepark-Betreibergesellschaft den Infraserv-Transformationspfad zur CO2-Neutralität. Tara Nitz, Global Positioning and Advocacy Circular Economy Covestro, Dr. Heiko Thielking, Head of Corporate Strategy Lanxess und Dr. Marco Bosch, Head of Carbon Management and Upstream Technologies BASF, stellten ihre Aktivitäten zu diesem Thema vor.

Viele Themen und Auswahlmöglichkeiten für die Konferenz-Teilnehmer
Auch beim „Markt der Möglichkeiten“, der in insgesamt 15 Impulsvorträgen mit anschließenden Diskussionen das Innovationspotenzial sowie die Optionen für die Gestaltung des Transformationspfades aufzeigte, konnten sich die Teilnehmer für die Themen ihrer Wahl entscheiden. Neben der inhaltlichen Vielfalt war die Digitalkonferenz vor allem durch die Möglichkeit, sich aus den vielen Vorträgen und Workshops ein individuelles Programm zusammenzustellen, besonders attraktiv.

Der Frage „Wie tickt Deutschland?“, widmete sich Frank Quiring, Mitglied der Geschäftsführung des Rheingold Instituts, am Nachmittag. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf gesellschaftliche Entwicklungen und den Umbau der Chemieindustrie standen im Mittelpunkt seines Vortrags. Nach der Diskussionsrunde mit Teilnehmern in Brüssel, Berlin, Frankfurt und Melsungen endete die Digitalkonferenz mit drei Workshops zur Rolle der Finanzwirtschaft bei der Transformation, klimakompatiblen Unternehmensstrategien und Implikationen einer CO2-neutralen chemischen Industrie für die Hochschullehre.

Dialog von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft fördern
Am Ende gab es viel Lob von den Teilnehmern für die Organisatoren der Veranstaltung: Prof. Dr. Hannes Utikal, Leiter des Zentrums für Industrie und Nachhaltigkeit der Provadis Hochschule, der für das Konzept der Digitalkonferenz verantwortlich war, und Janine Heck, wissenschaftlichere Mitarbeiterin des ZIN und Doktorandin der Wirtschaftschemie an der WWU. „Die wirtschaftlich erfolgreiche Transformation der Chemieindustrie ist eine Herkulesaufgabe, welche die Branche nur in Kooperation mit der öffentlichen Hand und der Wissenschaft erreichen kann“, stellte Prof. Utikal fest. Die Digitalkonferenz habe dazu beigetragen, bei der Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft in den Austausch zu bringen. „Dieser Dialog muss fortgesetzt und intensiviert werden“, so Utikal.