Letzte Aktualisierung: 29.09.2023
„Der Bund geht mit der Brechstange vor“
Prof. Poseck kritisiert Hauptverhandlungs-Dokumentation
von Norbert Dörholt
(15.09.2023) „Das Vorhaben zur Einführung einer audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung trifft in der Justizpraxis auf breite Ablehnung. Der Bund sollte die Justiz nicht immer wieder zusätzlich belasten, sondern Entlastungsmöglichkeiten finden“, sagte der hessische Justizminister Prof. Dr. Roman Poseck anlässlich seiner Teilnahme an der Podiumsdiskussion beim EDV-Gerichtstag in Saarbrücken.
Überhaupt setze der Bund in der Justizpolitik leider fortwährend falsche Akzente: „In Aussicht gestellte Entlastungseffekte werden nicht eintreten, so beispielsweise bei der Cannabis-Legalisierung. Entlastungsvorhaben, zum Beispiel zur besseren Bewältigung von Massenverfahren, werden auf die lange Bank geschoben. Das, was Mehrarbeit bedeutet, wie zum Beispiel die Dokumentation der Hauptverhandlung, wird indes mit der Brechstange gegen die überwiegende Position der Praxis durchgesetzt.“
Der diesjährige EDV-Gerichtstag findet vom 13. bis 15. September in Saarbrücken statt. Im Anschluss an die Auftaktveranstaltung fand am gestrigen Donnerstag eine Podiumsdiskussion mit dem thematischen Schwerpunkt der Dokumentation der Hauptverhandlung statt. Im dieser Diskussion sagte Poseck:
„Die deutsche Strafjustiz steht für eine hohe Qualität und hat sich in der Vergangenheit hervorragend bewährt. Der Mehrwert einer Dokumentation der Hauptverhandlung ist zweifelhaft. Im Gegenteil: Gerichte und Staatsanwaltschaften würden durch neue Dokumentationspflichten ohne erkennbaren Mehrwert mit zusätzlichem Aufwand belastet werden und das in einer Zeit einer hohen Belastung der Strafjustiz in Deutschland. Das Vorhaben trifft die Strafjustiz zur Unzeit.“
Der Minister erklärte weiter, dass das Vorhaben durch die Möglichkeit der Tonaufnahme anstelle einer Video-Dokumentation nur teilweise entschärft worden sei. „Auch für die Tonaufzeichnung muss die erforderliche Infrastruktur aufgebaut und unterhalten werden. Dies wird weitere personelle Kapazitäten binden. Dies gilt insbesondere für die aufwändige und zeitkritische Transkription. Der Bund sollte die Justiz nicht immer wieder zusätzlich belasten, sondern Entlastungsmöglichkeiten finden. In der Praxis trifft der neue Gesetzesvorschlag daher wenig überraschend weiterhin auf kritische Stimmen.
Die Generalstaatsanwälte sowie die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte haben einstimmig schwerwiegende Bedenken gegen das aktuelle Vorhaben erhoben. Sie befürchten erhebliche Gefahren für die Hauptverhandlung und die Wahrheitsfindung im Strafprozess. Bei unterschiedlichen Aufzeichnungsarten in den Ländern besteht außerdem Gefahr eines justizpolitischen Flickenteppichs. Dies gilt es, unbedingt zu vermeiden.“
Prof. Poseck mahnt außerdem an: „Der Bundesjustizminister sollte die gravierenden Bedenken aus der Praxis ernst nehmen und seinen Vorschlag überdenken. Es muss einbezogen werden, dass Zeugen womöglich anders agieren oder gar ihre Aussage verweigern, wenn sie wissen, dass ihre Aussagen aufgenommen werden. Dies gilt insbesondere für belastende oder besonders intime Details und dort, wo zusätzlich ungeklärte Fragen des Persönlichkeitsschutzes betroffen sind. Zudem ist die Gefahr groß, dass Teile der Verhandlung im Netz landen könnten. Die Überlassung von Transkripten aus der laufenden Hauptverhandlung birgt darüber hinaus die Gefahr, dass Zeugen ihr Aussageverhalten anpassen und die Wahrheitsfindung deshalb Schaden nimmt.“