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Letzte Aktualisierung: 19.04.2024

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Sommerlektüre gesucht? Der Bücherzettel für den Sommer bietet spannenden Lesestoff

von Dr. Thomas Scheben

(16.07.2019) Sommerzeit, Reisezeit – Zeit für Entdeckungen, die man freilich nicht nur in fernen Ländern, sondern auch daheim, vielleicht sogar direkt vor der eigenen Haustüre machen kann. Eine Reihe von Neuerscheinungen macht Lust auf Expeditionen in die eigene Stadt, bietet Hintergründe – oder ganz einfach Lesevergnügen.

Ein Weltkonzern verschwindet
„Brücke und Turm“, das Logo des Hoechst-Konzerns stand emblematisch für fast anderthalb Jahrhunderte des Flaggschiffs der prestigereichen deutschen Pharma- und Chemieindustrie sowie den Industriestandort Frankfurt am Main. Kaum ein halbes Jahrzehnt benötigte Vorstandschef Jürgen Dormann mit seiner Entourage, um den einstigen Weltkonzern aufzulösen und aus der Wirtschaftslandschaft zu tilgen.

Die Geschichte dieses Zerstörungswerkes zeichnet Karl-Gerhard Seifert nach, der in einer seinerzeit klassischen „Schornsteinkarriere“ nach dem Studium in das Unternehmen eingetreten, dann aufgestiegen war und von 1988 bis 1997 dessen Vorstand angehörte. Der erste Teil des Buches gewährt Einblicke in diesen heute eher ungewöhnlichen Karriereweg an die Unternehmensspitze. Rund die Hälfte des Bandes ist dann aber der Ära des Unternehmensvorstandes Jürgen Dormann gewidmet, zu dessen hausinterner Seilschaft der Autor anfänglich auch zählte.

Dormann, zeitweise ein Star am deutschen Managementhimmel, sah die Zukunft der Farbwerke in dessen Umbau zu einem europäischen „Life Science“ – Konzern. Im Zuge der umfassenden, aber häufig kurzatmigen und wenig durchdachten Umstrukturierung scheiterten Fusionen, wurden ertragreiche Sparten verkauft oder ins Ausland verlagert, erwiesen sich Zukäufe als Verlustbringer, wurde das in fünfzig Nachkriegsjahren angehäufte Vermögen verbrannt, bis schließlich die Fusion mit Sanofi–Aventis das Ende der Hoechst AG besiegelte. Der Autor, der diese Strategie nicht mittragen wollte, und deshalb von dem als emotionsgetrieben, zunehmend beratungsresistent und von einer Ja-Sager-Clique umgeben beschriebenen Dormann nach und nach beiseitegeschoben wurde, hatte das Unternehmen indes schon verlassen; nach seinem Ausscheiden übernahm Seifert die AllessaChemie in Fechenheim, der er bis heute als Geschäftsführer vorsteht.

Bisweilen durchaus selbstkritisch, spart der Autor aber auch nicht mit harter Kritik mit den führenden Wirtschaftsmedien, die Dormanns Strategie selbst dann noch unkritisch bejubelten, als die Zeichen an der Wand kaum mehr zu übersehen waren, und einer Landespolitik, die der Zerschlagung des vielleicht weltweit bekanntesten hessischen Traditionskonzerns tatenlos zusah.

Das Auftreten zahlreicher Personen, der Reichtum an Details und Dokumentenauszüge machen das Buch nicht unbedingt zu einer flotten Strandkorblektüre. Interessenten an den wirtschaftlichen Aspekten der Regionalgeschichte, an Industriegeschichte aus der Insider-Perspektive oder einem Einblick in die Arbeits- und Kommunikationsstrukturen der sonst eher verschlossene Welt der Unternehmensvorstände werden es allerdings so schnell nicht aus der Hand legen wollen.

Karl-Gerhard Seifert: Goodbye Hoechst. Von Könnern, Spielern und Scharlatanen, Societäts-Verlag 2019, 575 S., 25 Euro

Refugium für Stehbiertrinker, Kontaktsuchende und schräge Vögel
Was für Wien das Cafehaus, für München der Biergarten, das ist für Frankfurt das Wasserhäuschen, in dem bekanntlich nichts so selten getrunken wird wie Wasser . Über viele Jahre hinweg hat der Autor in Gesprächen mit dem Wirt Samy diesen Soziotop am Beispiel eines Büdchens in der Frankenalle erkundet; einige der Gespräche waren bereits in der Frankfurter Rundschau zu lesen.

Obwohl es sich im Grunde um eine klassenlose Gesellschaft handelt, in der ein Manager mit Chauffeur ebenso seinen Platz hat wie ein Geschichtsprofessor mit universitären Lorbeeren oder jährlich wiederkehrende Messebauer, stammt die Mehrzahl der Stammgäste von den Rändern der Gesellschaft. Die Titelfigur, der Jackel Hans, ein inzwischen verstorbener ebenso schrulliger wie eigenwilliger Typ mit einem tragischen Hang zur Selbstzerstörung fungiert dabei als eine Art Konstante, ein Protagonist, in dem viele Charakterzüge des Büdchen-Stammgastes zusammenfließen, der hier Halt, Lebensmittelpunkt und Aufmerksamkeit findet.

Er habe in ihnen „keine Kunden, sondern Mitmenschen“, merkt der Inhaber an, der für manche der einzige Mensch ist, der sich noch um sie kümmert, ein alltagspraktischer Sozialhelfer, dessen Trinkhalle, so der Autor, mehrere psychosoziale Einrichtungen ersetzt. Abgerundet werden die immer anrührenden, bisweilen komischen, manchmal tragischen Geschichten dieser einfühlsamen, aber niemals pathetischen Sozialreportage durch einen Text von Eckhard Henscheid über dessen eigene Wasserhäuschen-Erfahrungen.

Jürgen Roth: Der Jackel Hans. Eine Trinkhalle und ihre Geschichten, Societäts-Verlag 2019, 153 S., 14 Euro

Unerträglicher Abschied in die letzte Rettung
Kaum zwei Jahre benötigte das NS-Regime, um der jüdischen Bevölkerung Deutschlands klarzumachen, dass es mit dem Ende einer zweitausendjährigen gemeinsamen Geschichte ernst gemeint war. Bedeuteten die „Nürnberger Rassegesetze“ von 1935 ihre Ausgrenzung aus der Gesellschaft, ließ das Novemberpogrom von 1938 den Vernichtungswillen der Diktatur erkennen, nachdem Abkommen zur Aufnahme der zu vertreibenden Juden in anderen Ländern gescheitert waren.

Ein mehr als ungewisses Schicksal vor Augen, wollten viele Eltern wenigstens ihre Kinder retten. Jüdischen Organisationen gelang es, in einigen Ländern Programme zur Aufnahme jüdischer Kinder in Gang zu setzen und die nötigen Mittel dafür zusammenzubringen. So konnten zwischen Ende 1938 und dem Spätsommer 1940 rund 20.000 Kinder im Alter von zwei bis siebzehn Jahren aus Deutschland und Österreich sowie etwa 2000 aus Polen und der Tschechoslowakei in Familien oder jüdische Kinderheime in einige westliche Länder – mehr als die Hälfte nach Großbritannien – vermittelt werden.

Die Autoren haben rund zwanzig solcher Biographien aus Frankfurt und Umgebung recherchiert und dokumentiert und würdigen auch die Helfer und Hilfsorganisationen, die diese Rettung ermöglicht haben. Anschaulich zeigen die Lebensgeschichten, wie sich die erzwungene Flucht und die von wenigen Ausnahmen abgesehen endgültige Trennung von den Angehörigen das weitere Leben der Kinder prägte. Nicht wenigen gelangen eindrucksvolle Biographien, sie integrierten sich in ihr Aufnahmeland und kämpften in dessen Armeen gegen Nazideutschland; einige wenige kehrten nach Deutschland zurück. Vielen aber verstellte das Trauma der Zwangsemigration, nach Kriegsende noch einmal vertieft durch den endgültigen Verlust jeder Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Angehörigen, den Weg in ein normales Dasein.

Angelika Rieber / Till Lieberz-Groß (Hg.): Rettet wenigstens die Kinder, Fachhochschulverlag 2018, 301 S., 25 Euro

Anatomie eines Kleinods
Auch wenn sie neben dem Dom eher etwas unscheinbar, fast ein wenig geduckt daherkommt: Die Kirche St. Leonhard ist eines der bedeutendsten Baudenkmäler Frankfurts und gegenwärtig dessen reichhaltigste archäologische Fundstätte. Auf der Grundlage einer Schenkung Kaiser Friedrichs II. im Jahre 1219 errichtet, erlebte sie zahlreiche Umbauten und Erneuerungen. Diese zählen derzeit nicht nur zu den umfangreichsten, sondern für Archäologen und Historiker auch zu den ertragreichsten.

Die Freilegungen und Bodenfunde haben nicht nur neue Einsichten zur Baugeschichte ermöglicht sondern, wie die kunstvolle Figur des „Atzmann“, eines Lesepultträgers zeigt, vor allem auch zur Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Zahlreiche Skelette geben durch aufwändige Untersuchungen Aufschlüsse über Größe, Alter, Geschlecht, Ernährungsgewohnheiten, Krankheiten und Verletzungen der dort beerdigten Angehörigen der Frankfurter Oberschicht aus dem 16. Jahrhundert.

Der reichhaltig mit Fotos und Graphiken illustrierte Band erzählt detailreich und in nüchternem Berichtston von der Geschichte der Kirche und ihren Besuchern, die über die Jahrhunderte hinweg auf einmal ganz nahe an den Leser heranrücken. Daneben gewährt das Frankfurter Denkmalamt Einblicke in die Methoden von Archäologie und Anthropologie, die vor wenigen Jahren noch völlig undenkbare Einblicke in vergangene Lebenswelten ermöglichen - und das zu einem Preis, der für ein Fachbuch dieser Qualität mindestens ebenso sensationell ist wie sein Inhalt.

Andrea Hampel et al. (Hg.): St. Leonhard in der Frankfurter Altstadt: Archäologie / Anthropologie, Henrich Editionen 2019, 295 S., 25 Euro

Mädchen, macht den Mund auf!
Während in unseren frankophonen Nachbarländern der Comic-Strip längst über die Grenzen der leichten Unterhaltungslektüre in das Reich der Sachliteratur vorgedrungen ist und von ausgewiesenen Fachautoren zur unterhaltsamen, aber seriösen historischen Bildung eingesetzt wird, steckt dieses Genre hierzulande noch in den Kinderschuhen. Seinen zweiten Versuch in diese Richtung unternimmt das Autoren-Duo Christopher Tauber und Annelie Wagner nun mit einem Blick auf das Ende des Ersten Weltkrieges und den Aufbruch der Frauenbewegung in Frankfurt am Main.

Zwar haben darin auch Ikonen der Frauenbewegung wie Tony Sender und Meta Quark-Hammerschlag ihren Auftritt und werden im Anhang mit kurzen Porträts gewürdigt. Da der Band sich aber in erster Linie an ein junges Lesepublikum richtet, wird die Geschichte auch aus der Perspektive der jugendlichen Protagonisten erzählt. Vor dem Hintergrund des von Sorgen um Angehörige und materieller Not geprägten Alltags finden sich einige Mädchen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten zusammen, um sich den Drangsalierungen durch Jungens-Banden zur Wehr zu setzen, die sich vor allem in Städten gebildet hatten. Sie setzen dabei freilich nicht auf Gewalt gegen Gewalt, sondern – unterstützt von erwachsenen Frauenrechtlerinnen – auf Solidarität und Überzeugung.

Auch wenn viele der komplexen Zusammenhänge zwangsläufig ausgeblendet oder nur angerissen werden, gelingt es Zeichner und Texterin auch bei diesem Band, die Aufbruchstimmung dieses historischen Augenblicks einzufangen, als vielen Frauen und eben auch Mädchen klar wurde, dass nun der Moment gekommen war, etwas zu ändern , wenn sich die Frauen in den sich anbahnenden gesellschaftlichen Umwälzungen behaupten und ihre Lage verändern wollten.

Christopher Tauber / Annelie Wagner: Heraus aus der Finsternis, Zwerchfell-Verlag 2018, 51 S, 12 Euro

Handwerker in der Handelsstadt
Im Allgemeinen hatte sich Frankfurt seit dem Mittelalter einen Ruf als Stadt des Handels, der Messen und des Geldes erworben. Tatsächlich aber ging ein beträchtlicher Teil seiner damals rund 10.000 Einwohner einer breiten Palette von Handwerksberufen nach, die in den berufsständischen Organisationen der Zünfte zusammengeschlossen waren. Der Rolle dieser Zünfte im Frankfurt des 14. und 15. Jahrhunderts geht die Autorin anhand mittelalterlicher Originalquellen nach.

Diese geben Aufschluss über die Stellung und den Einfluss dieser bis ins 19. Jahrhundert fortbestehenden Korporationen auf das Wirtschaftsleben, die Betriebsorganisation der Handwerker bis hinein in das Privat- und Familienleben und das politische Gefüge der Stadtgesellschaft. Dabei arbeitet die Autorin sehr nahe an ihren Quellen, über deren Aussagekraft man dabei einiges erfährt, lässt diese auch selbst zu Wort kommen und macht ihre Analysen mit zeitgenössischen Illustrationen, Tabellen und Grafiken anschaulich.

So entsteht ein ebenso lebendiges wie authentisches Bild mittelalterlichen Wirtschafts- und Alltagslebens sowie der politischen Verfassung und Organe der spätmittelalterlichen Mainmetropole, das trotz seiner wissenschaftlichen Exaktheit obendrein eine ausgesprochen kurzweilige Lektüre bietet.

Ellen Diehm: Handwerkerzünfte im spätmittelalterlichen Frankfurt, Societäts-Verlag 2019, 349 S., 30 Euro

Die Puppe, der Krieg und der Mord
Im dritten Jahr des Ersten Weltkriegs wird in einer Frankfurter Pension eine Puppe in einem Sarg gefunden. Sie ist einer dort lebenden Schauspielerin täuschend ähnlich. Ein übler Scherz? Oder gar eine Morddrohung? Eine ebenfalls in der Pension wohnende Ärztin ruft ihre kriminalistisch versierte Freundin aus Wien zu Hilfe; dort hatte sich das Duo schon in früheren Büchern der Autorin als Ermittler betätigt. Während die zwei Frauen den Fall eher von der psychologischen Seite angehen, setzen die Polizisten auf die klassischen Mittel ihres Milieus, um sich aus unterschiedlichen Perspektiven gemeinsam der schließlich überraschenden Lösung des Falles anzunähern.

Der Autorin gelingt ein atmosphärisch glaubwürdiges Stadtbild Frankfurts im Kriegsjahr 1917, das sich auf das jüdisch geprägte Ostend, das pazifistisch ausgerichtete Kunst- und Literatenmilieu und die Theaterszene fokussiert. Erscheint der Krieg zunächst noch wie ein Hintergrundrauschen, wird im Laufe der Lektüre immer deutlicher, dass er erst die Bedingungen geschaffen hat, die diesen Fall überhaupt erst in die Welt gesetzt haben. Eine Welt, in der vor allem Frauen fernab der Front zusehen mussten, wie sie mit dessen Nöten, Hunger, Knappheiten, Tod und Verwundung der Männer fertig werden und ihre Familien über die Runden bringen mussten – und wie manchen von ihnen darob ihr Leben entgleitet und in einem Kriminalfall mündet.

Ulrike Ladnar: Frankfurter Szenen, Gmeiner 2017, 408 S., 14,99 Euro (ffm)