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Letzte Aktualisierung: 28.03.2024

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Goodbye Hoechst – von Spielern und Scharlatanen

Ehemaliges Vorstandsmitglied Dr. Seifert schildert mit viel Insiderwissen den Untergang der Hoechst AG

von Norbert Dörholt

(06.12.2018) Das Buch liest sich spannend wie ein Krimi, doch, wie bekannt, ohne Happy End. Das verkündet schon der Titel: „Goodbye Hoechst – von Könnern, Spielern und Scharlatanen“. Was das Buch auszeichnet ist das tiefe Insider- und Detailwissen des Autors, der hier ein wesentliches Kapitel der jüngeren deutschen Industriegeschichte nachzeichnet. Kein Wunder, handelt es sich doch um den ehemaligen Vorstand Dr. Karl-Gerhard Seifert. Viele der geschilderten Geschehnisse erscheinen schier unglaublich.

Bildergalerie
Hoechst, der Chemiegigant aus dem gleichnamigen Stadtteil im Westen Frankfurts, gehörte einst zu den Flaggschiffen der Großchemie in Deutschland. Die Rotfabriker, wie sie im Volksmund genannt wurden, waren Anfang der 1980-er Jahre auch die größten Pharmahersteller der Welt.
Foto: Societäts Verlag
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Dr. Karl-Gerhard Seifert schildert in seinem Buch detailliert und mit seinen besonderen Insiderkenntnissen, wie ab Mitte 1990 ein durch unübersehbare Managementfehler bedingter Niedergang der Hoechst AG einsetzte, der letztlich zur Zerschlagung des früheren Weltkonzerns führte.
Foto: Societäts Verlag
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Auf Seite 31 blitzt es erstmals auf, als Auftakt zu einer gnadenlosen aber fundierten Abrechnung mit dem Totengräber der ehemaligen Hoechst AG, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Jürgen Dormann. Dort erzählt das langjährige Vorstandsmitglied Dr. Karl-Gerhard Seifert in seinem jetzt erschienenen Buch von einem Gespräch aus seinen Anfangsjahren bei Hoechst mit einem Vorgesetzten. Dieser sagte: „Merken Sie sich eins: Es haben schon viele Generationen versucht, Hoechst zu ruinieren, aber keiner Generation ist es bisher gelungen.“ Der nächste Satz im Buch, geschrieben von Dr. Seifert, lautet: „Jürgen Dormann hatte bereits 1970 bei der Hoechst AG angefangen, und er war es dann, dem es gelang, Hoechst untergehen zu lassen.“

Wer da nun meint, mit „Goodbye Hoechst“ rächt sich nur ein verbittertes, ausgebootetes Vorstandsmitglied, irrt. Er wurde nicht ausgebootet, sondern verließ das Unternehmen, als er die Ergebnislosigkeit seiner Bemühungen einsah, aus eigenem Entschluss, und anschließend feierte er einen unternehmerischen Erfolg nach dem anderen. Vielfach humorvoll, selbstironisch bis hin zu mutigen Schilderungen, wie, wo und warum man hin und wieder gemeinsam mit anderen Führungskräften ein wenig zu tief ins Glas geschaut hat, berichtet Seifert auf 575 mit kleinen Buchstaben eng beschriebenen Seiten selbstbewusst und stets logisch nachvollziehbar das teilweise gespenstische Geschehen im Schatten von Turm und Brücke. Langweilig ist das Buch an keiner Stelle! Wie könnte es auch, erfährt man doch erstmals aus allererster Hand, wie und warum es soweit kommen konnte, dass der in den 80-er Jahren weltgrößte Pharmahersteller nur wenige Jahre später zerschlagen werden konnte.

Karl Gerhard Seifert war von 1988 bis 1997 Mitglied im Vorstand der Hoechst AG. In seinen Erinnerungen blickt er besonders auf die Vorgänge zurück, die maßgeblich waren für die Fusion der Hoechst AG mit Rhone-Poulenc zu Aventis. Viele Geschehnisse erschienen auch ihm so unglaublich, dass er ab dem Jahr 2000 begann, das Erlebte aufzuschreiben. Seine Protokolle, Dokumente und Aufzeichnungen der Gespräche mit Kollegen aus Vorstand und Aufsichtsrat beginnen aber viel früher und bilden die Grundlage für das Buch.

Zahlreiche Fotos lockern den Text auf, und auch hier verleiten manche Bilder trotz des ernsten Themas zum Schmunzeln, zum Beispiel wenn man auf Seite 72 sieht, wie der damalige Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Rolf Sammet mit Panama-Hut gemeinsam mit weiteren Weggefährten einen im Sand beim Staudamm von Ma´rib stecken gebliebenen Wagen mühevoll wieder heraus wuchtet.

Und wer gar einmal kräftig lachen will, der lese das Kapitel 29 „Eine Belegschaft wehrt sich“. Die Vorgänge bei Hoechst und die Entscheidungen waren ab 1996 den Mitarbeitern nicht mehr vermittelbar, schreibt Seifert an dieser Stelle. Da man ungestraft seine Meinung nicht mehr sagen konnte, tauchten anonyme Rundschreiben auf, in denen sich Mitarbeiter über Dormann und den Vorstand lustig machten. Und dann folgt eine Kostprobe dieser Rundschreiben mit teilweise schriftstellerischem Potential und viel (Galgen-)Humor und enden in einer Todesanzeige mit den Worten:

„Wir trauern um unsere liebe HOECHST AG, *1863 + 1997. Nach einem arbeitsreichen Leben verstarb sie nach qualvollen Leiden im Mai 1997. Aufrichtige Anteilnahme entbieten: Die Mitarbeiter von Jade und Angehörige, die Mitarbeiter von Celanese und Angehörige, die Mitarbeiter von Clariant und Angehörige sowie die Stiefkinder HMR, HR Vet, AgrEvo und Infra Serv. Zu Beileidsbekundungen am Industriepark rufen wir alle auf. Die Trauerfeier findet am 5. Mai 1998 in der Jahrhunderthalle/Höchst statt. Zugedachte Geldspenden bitte an die Solidaritätsfonds der zukünftigen Arbeitslosen des Industrieparks Höchst.“

Das Lachen vergeht einem aber schnell wieder, wenn man sich den Fakten widmet, die im Kapitel 31 unter dem Titel „Hoechst – Der programmierte Zerfall des einstigen Weltkonzerns“ geschildert werden. Theo Lingen würde hierzu wahrscheinlich seine berühmten Worte sprechen: „Traurig, traurig, traurig.“ Und dann wahrscheinlich nochmal zum Kapitel 33: „Der Untergang von Hoechst in der Außendarstellung oder Wie Professoren die Zerschlagung der Hoechst AG beschrieben und versuchten, diese positiv darzustellen.“

Aber auch andere schief gelaufene Vorgänge im Konzern schildert Seifert detailliert. Er beschreibt wie er besonders bei Hoechst in Brasilien wiederholt auf Korruption aufmerksam wurde und sich dagegen wehrte. „In mir kam stets Unmut auf, wenn ich bemerkt habe, dass Mitarbeiter die Firma betrogen hatten und es kaum eine Möglichkeit zur Aufdeckung gab. Wenn es mir dann doch gelungen war, den einen oder anderen Fall aufzuklären und entsprechend zu lösen, verschaffte mir das höchste Befriedigung.“ Kann man verstehen. Es steht zu befürchten, dass es in den meisten großen Firmen wahrscheinlich ähnlich zugeht.

Durch seine erfolgreiche Arbeit jedenfalls wurde man in der Konzernzentrale in Höchst auf ihn aufmerksam und Jürgen Dormann, der spätere Vorstandsvorsitzende, holte ihn 1981 in die Direktionsabteilung. Seit dieser Zeit arbeitete er eng und vertrauensvoll mit Jürgen Dormann zusammen, bis 1995 das gute Verhältnis auseinander brach.

Und jetzt kommt wieder ein wenig Krimi: 1987 und 1988 kümmerte sich Seifert um den von der Hisbollah in Beirut gefangen gehaltenen Mitarbeiter Rudolf Cordes. Seifert beschreibt erstmals, wie die Hoechst AG den Geheimagenten Werner Maus einsetzte, um ein Lebenszeichen zu erhalten und um eine Befreiung zu erreichen. Die über 600 Tage währende Geiselhaft, die Bemühungen des Unternehmens und der Bundesregierung werden sehr genau wiedergegeben. Gemeinsam mit dem damaligen Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble konnte Seifert den Mitarbeiter dann nach dessen Freilassung in Damaskus abholen.

Ein wichtiges Kapitel widmet sich auch dem Chemieunfall im Werk Griesheim im Jahre 1993, bei dem der einst angesehene Chemiekonzern durch schlechtes Management das Vertrauen der Öffentlichkeit verlor. Dies führte dazu, dass der damalige Vorstandsvorsitzende Wolfgang Hilger ein Jahr später aus dem Vorstand ausschied und Jürgen Dormann sein Nachfolger wurde.

Weite Teile des Buches beschäftigen sich mit dem Pharmageschäft des Hoechst Konzerns, wo Rivalitäten zwischen Hoechst und Roussel-Uclaf die Entwicklung zu einem erfolgreichen Pharmageschäft erschwerten. Durch die von Jürgen Dormann betriebene Akquisition einer Generika-Firma in USA wurde das Pharmageschäft weiter geschwächt. Die von Dormann und Seifert betriebene Akquisition einer großen Pharmafirma in USA sollte das globale Pharmageschäft des Hoechst Konzerns neu aufstellen. Hier traten erstmalig Meinungsunterschiede zwischen Dormann und Seifert auf: Während Seifert die drei neuen Firmen partnerschaftlich zu einer neuen Einheit formen wollte, übertrug Dormann diesen Prozess dem amerikanischen Management, das weder Erfahrungen im globalen Management noch in Forschung und Entwicklung hatte. Auf Druck von Dormann musste Seifert 1995 seine Verantwortung für den Pharmabereich abgeben. Viele gute Manager verließen das Unternehmen und der Hoechst-Marktanteil ging zurück.

Für den eigentlichen Niedergang der Hoechst AG macht Seifert das Projekt „Hello“ verantwortlich, bei dem Teile des Hoechst Vorstands ohne einen Vorstandsbeschluss Gespräche mit der amerikanischen Firma Monsanto führten, um beide Firmen zu fusionieren. Nachdem Monsanto vertrauliche Unterlagen zum Geschäft und Strategie von Hoechst erhalten hatte, verliefen die Gespräche im Sande. Allerdings war bis dahin die grundsätzliche Entscheidung getroffen, das Spezialchemiegeschäft auszugliedern und an die Schweizer Firma Clariant zu verkaufen. Damit hatte sich die Hoechst AG von einem großen Teil ihrer weltweiten Infrastruktur getrennt. Dies und ein Rückgang der Ergebnisse des Pharmageschäfts führten die Hoechst AG 1998 in eine schlechte wirtschaftliche Situation. Es blieb als einziger Ausweg nur die Fusion mit der französischen Firma Rhone-Poulenc zu Aventis.

Der Vorstand indessen versuchte, die damaligen Geschehnisse als strategisch richtige und wirtschaftliche sinnvolle Entscheidungen darzustellen. In dem Buch werden diese Versuche jedoch entsprechend kommentiert.

Seifert wechselte 1997 als CEO mit 23.000 Mitarbeitern der Hoechst AG zur Clariant AG. Man baute ein starkes globales Unternehmen in der Spezialchemie auf, was sich in einem starken Anstieg des Aktienkurses ausdrückte. Ein unfähiger Verwaltungsrat der Clariant AG entwickelte dann aber Strategien, die letztlich die Clariant AG an den finanziellen Abgrund trieben. Seifert hatte aber vor dem Einsetzen dieses Prozesses die Clariant bereits 1999 verlassen. – Fazit: Wer dieses Buch nicht liest, ist selber schuld!

 

Was danach geschah
Als Mitarbeiter der Deutschen Bank lernte Dr. Karl-Gerhard Seifert nach seinem Ausscheiden von Hoechst bis 2000 viel im Investmentbanking. Er erwarb die einstmals zu Hoechst gehörende Trevira GmbH. Dann übernahm er unter dem Namen AllessaChemie im Jahr 2001 die Chemiewerke in Frankfurt Fechenheim und Offenbach, um eine Stilllegung durch die Clariant zu verhindern. Nach einer erfolgreichen Restrukturierung verkaufte er die AllessaChemie im Jahr 2013.

Zur Person
Karl-Gerhard Seifert, geboren 1946, trat nach dem Studium der Chemie in Göttingen und Promotion 1971 und nach einem Postdoc Aufenthalt bei IBM in Kalifornien 1973 in die Hoechst AG ein. Im Anschluss an einen kurzen Aufenthalt in der Forschung wechselte er in die Farben- und Zwischenprodukte-Produktion und übernahm Aufgaben eines Betriebsführers. Dank seiner Kenntnisse in Datentechnik automatisierte er Prozesse in der Zwischenprodukte-Produktion und konnte diese Technik erfolgreich bei der Hoechst AG einführen. 1979 wurde ihm die Aufgabe zugeteilt, in Brasilien einen Pigmentbetrieb zu rationalisieren und auszubauen.

Er war mit verschiedenen Aufgaben betraut und übernahm 1983 in der Direktionsabteilung eine Abteilungsleiterfunktion, wo er unter anderem für die Investitionsplanung des Hoechst Konzerns zuständig war. 1984 trat er als Nachfolger von Jürgen Dormann die Leitung der Zentralen Direktionsabteilung an, die Stabsstelle des Vorstands, und nahm bis zu seinem Ausscheiden 1997 an allen Vorstandssitzungen teil.

Nach seiner Berufung in den Vorstand 1988 war neben der Regionalbetreuung von Afrika das Hauptarbeitsgebiet von Karl-Gerhard Seifert das Agro-Geschäft der Hoechst AG. Beschrieben wird im Buch, wie mithilfe moderner Produkte und einer Strategieänderung in Richtung Gentechnik das Pflanzenschutzmittelgeschäft rationalisiert und erfolgreich neu ausgerichtet wurde. Nach langen Verhandlungen mit der Schering AG wurde ein neues Unternehmen aus den beiden Pflanzenschutzmittelaktivitäten, die AgrEvo GmbH, gegründet.

„Goodbye Hoechst“ ist Anfang Dezember 2018 im Frankfurter Societäts Verlag erschienen und kostet 25 Euro, Hardcover, ISBN 978-3-95542-321-6