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Letzte Aktualisierung: 18.04.2024

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Der Glockenspieler vom Bartholomäusturm

Von Karin Willen

von Ilse Romahn

(25.04.2015)  Mit Leidenschaft für seine Stadt: Ulrich Seidel bringt in Erfurt alle 14 Tage mit Fäusten und Füßen Glocken zum Klingen, die zum Ruhme der DDR gegossen wurden.

Irgendwie ist Ulrich Seidel ein Spätberufener. Er hatte jedenfalls schon eine Handvoll Berufe hinter sich gebracht, als er seine neue Leidenschaft entdeckte: das Carillon. Bei der Arbeit an einem Filmdrehbuch über Erfurt sah er 2007 das erste Mal einen Carillonneur spielen. Mit den Fäusten und deutlich mehr Kraftaufwand als bei Orgel oder Klavier traktierte sein Vorgänger Franz Ludwig im schallisolierten Kabäuschen das Instrument unterhalb der 60 Glocken. Das hat ihn so gepackt, dass er drei Jahre und etliche Übungsstunden später auf dem Bartholomäusturm sein erstes öffentliches Konzert gab.


Mit Leidenschaft über den Köpfen der Zuhörer: Ulrich Seidel auf dem Bartholomäusturm
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Heute ist der 54-Jährige mittendrin in der kleinen Szene der Carillonneure in Deutschland und verfeinert sein Können an der renommierten Glockenspielschule in Mechelen in Belgien. Fürs Studium setzt er sich zweimal wöchentlich an eine leise Kopie des Carrillons, unten im 35 Meter hohen, 1412 gebauten Turm am Anger, dem die dazugehörige Kirche im 16. Jahrhundert abhandengekommen war.


Pflicht vor der Kür: Ulrich Seidel unten im Turm am Übungscarillon
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«Das Übungscarillon wurde 1979, als das Glockenspiel zum 30. Jahrestag der DDR eingebaut wurde, gleich mit in den Turm gestellt», sagt der Erfurter. Der Festakt mit Brimborium und Tausenden von Zuhörern ist damals schlicht an ihm vorbeigegangen: «Ich war 18 Jahre, hatte anderes im Kopf, und mein Instrument war zu der Zeit das Schlagzeug».

Heute urteilt er: «Das Carillon hat eine kommunikative Störung. Man hört, dass was passiert, sieht aber nichts.» Die Erfurter haben die Störung inzwischen gelindert. Wenn Seidel oder Gastspieler, die er einlädt, samstags alle 14 Tage zwischen Frühjahr und Herbst um 16 Uhr ein Konzert geben, beobachten kleine Zuschauertrauben das einsame kraftraubende Spiel am Monitor im Schaufenster des Schuhhauses Zumnorde nebenan. Den Kontakt zum Auditorium stellt Seidel auch noch auf andere Weise her: «Am Ende eines Konzerts öffne ich das Lamellenfester und verbeuge mich».


Kirchturm ohne Kirchenschiff: Bartholomäusturm in der Einkaufszeile Anger
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Doch Tausende wie zur Einweihung am 30. Jahrestag der DDR bekommen die Glockenspieler selbst dann nicht zu Gesicht, wenn sie mit Schlagzeugern, Dudelsackpfeifern oder Turmbläsern Konzerte geben. Das Carillon bleibt ein eher einsames Instrument. Das kennt auch Yuko Tajima aus Frankfurt, die am 21. Juni ihr Gastspiel auf dem Bartholomäusturm gibt. In Frankfurt lässt sie die 47 Glocken der Alten Nikolaikirche jeden Mittwoch um kurz nach 12 Uhr über den Römerberg klingen.

«Ein Carillion zu spielen ist schon völlig anders als eine frei schwingende Glocke zu läuten», erläutert Seidel. «Die Bronzeglocken sind fest installiert. Durch die Kraft meiner Fäuste und Füße variiere ich den Klöppelanschlag und damit den Ton. Wenn an der Mechanik zwischen Stocken, Läuteseil und Klöppel mal etwas nicht rund läuft, legt er selber Hand an. «Eine handwerkliche Begabung ist hier von Vorteil», zwinkert er, während er die Zugspannung eines Seils korrigiert.

Seidel spielt sogar nur für eine Person, wenn ihn das benachbarte Hotel Zumnorde beauftragt. Auch wenn ihm die dabei gewünschten Melodien nicht immer passen. Das Lied für eine 80-jährigen Jubilarin «Du bist die Welt für mich» von Richard Tauber ging ihm nicht so einfach von der Faust. Er spielt lieber Stücke von Bach, jahreszeitlich passende Melodien und Eigenkompositionen. Falls sein Spiel den Anwohnern einmal zu viel wird, wie jüngst am Tag der offenen Tür, stoppen sie ihn einfach per SMS. Auch hier har die Technik die Kommuniktionsstörung überbrückt.


Bronze für den guten Klang: 60 Glocken können im Bartholomäusturm tönen
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Hauptberuflich kümmert sich Seidel als Autor um Geschichten aus der Geschichte Erfurts. Auf dem Rondell der Westseite des Mariendoms, der auf Bonifatius zurückgeht und in dem Martin Luther zum Priester geweiht wurde, auf der barocken Zitadelle Petersberg oder auch auf dem Gera-Inselchen namens Dämmchen unterhalb der berühmten Krämerbrücke holt er sich die Erholung und Inspiration für seine Projekte.


Shop mit Geschichtsbezug auf der Krämerbrücke: Mit Waid wurde Erfurt einst wohlhabend
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So hat Erfurts ehrenamtlicher Glockenspieler einige Stadtrundgänge für Thüringens Hauptstadt beschrieben, etwa das Thema Till Eulenspiegel, Mitteleuropas älteste bis zum Dach erhaltene Synagoge, Deutschlands älteste Nudelfabrik oder wie die Stadt an der Via Regia einst mit dem Waid als Grundstoff für die blaue Farbe reich wurde. 2004 hat er die Restauration der größten frei schwingenden mittelalterlichen Glocke der Welt, der Gloriosa im Mariendom, dokumentiert, die auch das Vorbild für Frankfurts Gloriosa ist. Gerade hat Seidel den DUMONT direkt Reiseführer über Erfurt geschrieben.


Vor Erfurts Publikumsmagneten: Eingang zur Krämerbrücke
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Jetzt digitalisiert er das Konzertbuch seiner Vorgänger im Turm. Die hatten eine Dienstwohnung, durch deren Badezimmer die Turmtür führte, ein festes Salär und die Verpflichtung, dreimal am Tag zu spielen. «Durchs Badezimmer muss heute keiner mehr», grinst Seidel, « damals aber durchaus auch Staatsgäste, die das Glockenspiel oben sehen wollten. Und die Leute kriegten hier ab und zu ‚Völker hört die Signale‘ oder das Thälmannlied auf die Ohren».

Sein nächstes Projekt? Das ist noch nicht ausgemacht. Da muss er erst wieder in sich gehen auf seinen ganz persönlichen Kraftplätzen in der mittelalterlichen Altstadt.

Info: Ulrich Seidel: www. ansichtssache-erfurt.de; Bartholomäusturm: www.bartholomaeusturm.de
Vorführungstermine im Bartholomäusturm: www.bartholomaeusturm.de/termine.htm; Deutsche Glockenspielervereinigung e.V.: www.glockenspieler.de; Erfurt: www.erfurt-tourisimus.de

Fotos: Karin Willen