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Letzte Aktualisierung: 28.03.2024

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Ein Leben in Extremen

Eine aktuelle Biografie über das Leben der Gudrun Ensslin

von Norbert Dörholt

Bis heute geistert Gudrun Ensslin als Schattengestalt mit schwäbisch-provinziellem Pastorentochterhintergrund in der öffentlichen Meinung herum. Eine aktuelle Biographie wirft ein neues Licht auf die RAF-Terroristin der 1970er Jahre.



Bis ist rätselhaft, was Gudrun Ensslin zu ihren verblendeten und verbrecherischen Taten führte.
***


In Zeiten, in denen sich Menschen wie aus dem Nichts heraus radikalisieren und in ihrer kruden Ideologie über Leichen Unschuldiger gehen, haben Fragen nach dem Wie und Warum ihres Handelns Hochkonjunktur. Vor diesem Hintergrund ist die jetzt bei Klett-Cotta erschienene Biographie von Ingeborg Gleichauf über die TOP-Terroristin Gundrun Ensslin hochaktuell – stellen sich doch beim biographischen Werdegang ihrer Protagonistin die gleichen Fragen, die uns heute im Falle der Attentäter des sogenannten Islamischen Staates umtreiben.

Bis heute geistert Gudrun Ensslin als Schattengestalt mit schwäbisch-provinziellem Pastorentochterhintergrund in der öffentlichen Meinung herum. Eine aktuelle Biographie wirft ein neues Licht auf die RAF-Terroristin der 1970er Jahre.


Bis ist rätselhaft, was Gudrun Ensslin zu ihren verblendeten und verbrecherischen Taten führte.
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In Zeiten, in denen sich Menschen wie aus dem Nichts heraus radikalisieren und in ihrer kruden Ideologie über Leichen Unschuldiger gehen, haben Fragen nach dem Wie und Warum ihres Handelns Hochkonjunktur. Vor diesem Hintergrund ist die jetzt bei Klett-Cotta erschienene Biographie von Ingeborg Gleichauf über die TOP-Terroristin Gundrun Ensslin hochaktuell – stellen sich doch beim biographischen Werdegang ihrer Protagonistin die gleichen Fragen, die uns heute im Falle der Attentäter des sogenannten Islamischen Staates umtreiben.

Was in aller Welt trieb das intellektuelle Bürgerkind Gudrun Ensslin dazu, als Mitglied der „Roten Armee Fraktion“ ihrem Staat den Krieg zu erklären und dann zunehmend rücksichtslos die Vertreter dieses „Systems“ zu bekämpfen, zu verletzen, ihren Tod in Kauf zu nehmen – oder gar kaltblütig zu exekutieren? Wie konnte es angehen, dass ein fröhliches, aufgewecktes Mädchen, eine an vielem interessierte, musisch begabte und sozial engagierte Jugendliche, eine sprachlich sensible, literarisch aufgeschlossene und talentierte Studentin, die nach mehreren Anläufen in die Studienstiftung des Deutschen Volkes aufgenommen wurde – dass diese wache, weit überdurchschnittlich intelligente junge Frau, sich in einen revolutionären Furor steigert, dass sie Polizisten als „Schweine“ diffamiert? Dass sie ihre bürgerliche Existenz aufgibt, alle Brücken hinter sich niederreißt und sogar den Kontakt zu ihrem kleinen Sohn abbricht? Und wann genau überschritt sie die rote Linie zur Gewaltkriminalität, von der aus es kein Zurück mehr gab?

Als Ensslin 1967 Andreas Baader kennenlernte und von ihm, dem moralisch bedenkenlosen Desperado, auf der ganzen Linie fasziniert war? Oder schon vorher, als der Student Benno Ohnesorg in Berlin erschossen wurde – was zur Radikalisierung der Studentenbewegung führte? Eine Antwort auf diese Fragen muss auch das vorliegende, so sehr um das Verstehen der Person Gudrun Ensslin bemühte Buch schuldig bleiben.

Ebenso undurchdringlich bleibt für die Autorin Ingeborg Gleichauf auch die Rolle, die Baader im Leben von Ensslin spielte. Man darf spekulieren, dass die Doktorandin, die sich bisher nur mit Texten beschäftigt hatte, ohne diesen Mann nicht zur Terroristin geworden wäre. Andererseits wusste Ensslin genau, was sie tat, als sie mit Baader am 2. April 1968 in zwei Frankfurter Kaufhäusern Brandsätze legte – wofür sie zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

Und doch weiß die Freiburger Schriftstellerin in einigen Bereichen Erhellendes zu berichten. Souverän und kenntnisreich zeichnet die promovierte Germanistin und Verfasserin erfolgreicher Biographien über Max Frisch, Hannah Arendt und Simone de Beauvoir das Leben einer „extremen Person und ihren extremen Lebensweg“ nach, der – wie die Autorin betont – nicht zwangsläufig vorbestimmt war. Vielmehr gab es in Gudrun Ensslins Leben „immer wieder Momente, in denen sie sich hätte anders entscheiden können“.

So etwa während ihrer ersten Haft, als Gudrun Ensslin – wie ihre damals geschriebenen Briefe bezeugen – hin- und hergerissen war zwischen ihrem vergangenen Leben – in dem sie mit Bernward Vesper einen kleinen Sohn hatte – und der Sehnsucht nach weiterer Gemeinsamkeit mit Baader. Die Ereignisse sprechen eine eindeutige Sprache: Flucht vor erneutem Haftantritt, Leben im Untergrund, Banküberfälle, Sprengstoffanschläge in mehreren Städten mit Verletzten und mehreren Toten, Festnahme, Untersuchungshaft, Prozess in Stammheim.

Gleichauf beschönigt nichts, legt aber den Finger dort auf die Wunde, wo Spekulation historische Fakten vernebelt. Eindringlich schreibt sie gegen „hartnäckig bestehende Vorurteile“ und „reproduzierte Pseudotatsachen“ an, die durch die Geschichte wabern. Und sie hinterfragt kritisch, was andere als gegeben hinnehmen oder einfach unreflektiert in den Raum stellen, bohrt nach, wo andere aufhören zu recherchieren.

Mit großer erzählerischer Kraft und analytischem Sachverstand beleuchtet Gleichauf die geistige und politische Entwicklung ihrer Protagonistin und zeigt auf, wie aus dem intellektuellen Bürgertum des Nachkriegsdeutschlands gewaltbereite Radikalisierung möglich war. Groß geworden in einer Gegenwart, die sich noch längst nicht befreit hatte von den Schrecken der jüngsten Vergangenheit, verlief die Vita der schwäbischen Pfarrerstochter Gudrun Ensslin anfänglich in traditionellen Bahnen, ehe sie mit ihrem bürgerlichen Leben radikal brach und im Frühjahr 1970 als führender Kopf einer kleinen Gruppe von linken Aktivisten der Bundesrepublik Deutschland den Krieg erklärte.

Einprägsam und gut verständlich schildert die Autorin die Zeitumstände, die die Entwicklung einer gewaltbereiten Radikalisierung begünstigt haben: Sie erzählt die Geschichte dieser Jahre, von den Anfängen der studentischen Protestbewegung der 1960-er Jahre und der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO), der Erschießung des Demonstranten Benno Ohnesorg, über den Weg der RAF in den Untergrund bis zu dem Selbstmord dieser „Aktivistin der erste Stunde“ im Hochsicherheitsgefängnis Stammheim.

Ingeborg Gleichauf gibt neue Antworten auf alte Fragen. Sie interessieren nicht so sehr die wissenschaftlich erschöpfend aufbereiteten Mordanschläge, Bombenattentate und Entführungen, durch die die Terroristen der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) die Demokratie zerstören wollten; sie fragt vielmehr nach den Gründen ihrer Radikalisierung. Dabei gelingt es ihr, in einer besonderen Verbindung von Erzählung und Analyse dem Leser eine ebenso schwierige wie vielschichtige Person nahezubringen und diesem einen neuen Blick auf die Person Gudrun Ensslin hinter der »sphinxhaften Ikone der RAF« zu eröffnen.

Am Ende des sehr lesenswerten Buches steht der Satz: »Über Gudrun Ensslin ist vieles bekannt und dennoch ist die Person selbst bis heute eine Unbekannte geblieben«. Wer Ingeborg Gleichaufs Buch gelesen hat, darf zumindest behaupten, dass er der großen Unbekannten ein Stückweit näher gekommen ist. –

Ingeborg Gleichauf: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin,
Klett-Cotta, Stuttgart 2017,
350 Seiten, Preis 22,00 €
ISBN 978-3-608-94918-6

Dr. Theodor Kissel