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Letzte Aktualisierung: 23.04.2024

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Ein Aufbruch, der im Abgrund endete

Zum Buch „Revolution in Russland – Das Zarenreich in der Krise"

von Dr. Theodor Kissel

(17.07.2017)  Die Abdankung des Zaren und damit der Untergang der russischen Monarchie und der Romanow-Dynastie markiert eine tiefgreifende Zäsur in der russischen Geschichte. Eine lesenswerte Abhandlung von Stephen A. Smith, „Revolution in Russland – Das Zarenreich in der Krise“, beleuchtet Verlauf, Hintergründe und Folgen dieses welthistorischen Ereignisses.

Politisch wilde Zeiten behandelt das Buch "Revolution in Russland".
Foto: Verlags Philipp von Zabern
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Das Revolutionsjahr 1917 war eine Zäsur, deren Folgen bis heute nachwirken und für jeden Russen spürbar sind. Am 8. März (nach dem damals noch geltenden julianischen Kalender am 23. Februar) brach in der Hauptstadt Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, die Februarrevolution aus. Sie fegte binnen Tagen die autokratische Zarenherrschaft hinweg. Erstmals wurden Grundrechte wie die Versammlungs- und Redefreiheit proklamiert und das allgemeine Wahlrecht eingeführt.

Doch damit war die Staatskrise nicht vorüber. Es entstand eine labile »Doppelherrschaft«, bei der sich die von bürgerlich-liberalen Reformkräften geführte provisorische Regierung unter Pawel Miljukow den Sowjets (Räten) der Arbeiter und Soldaten gegenübersah. Als die Staatsmacht immer mehr zerfiel, ergriff die radikal-sozialistische Partei der Bolschewiki Ende Oktober (nach heutiger Zeitrechnung im November) die Chance zur Machtergreifung. Die von Lenin geführten Bolschewiki besetzten die Hauptstadt, verhafteten die Regierung und stellten die Weichen für die Umwandlung Russlands in eine kommunistische Einparteidiktatur, die sie allerdings erst nach jahrelangem Bürgerkrieg im ganzen Land durchsetzen konnten.

Zum 100-jährigen Jubiläum dieses epochalen Ereignisses, welches das Gesicht des Russischen Reiches grundlegend veränderte und den Lauf der Weltgeschichte für den Rest des 20. Jahrhunderts entscheidend prägte, hat nun der Oxforder Historiker Steve A. Smith eine umfassende und äußerst fesselnde Darstellung über die Geschichte des russischen Reiches vorgelegt. Es ist die Geschichte eines Aufbruchs, die im Abgrund endete. Smith spannt einen historischen Bogen von den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts über den 1. Weltkrieg, die Revolutionen von 1917 und die Etablierung des bolschewistischen Regimes bis zum Ende der 1920-er Jahre, als Stalin mit brutaler Rücksichtslosigkeit ein Terrorregime etablierte, das Russland auf Jahrzehnte in ein Gefängnis verwandelte.

Warum schlug der Versuch der zaristischen Verwaltung unter Premierminister Pjotr Stolypin fehl, nach der Revolution von 1905 politische Reformen einzuführen? Warum führte der anfangs in der Bevölkerung mit patriotischer Begeisterung aufgenommene 1. Weltkrieg zum Untergang des Zarenreiches? Warum stieß der Versuch, nach der Februarrevolution 1917 ein demokratisches System zu implementieren, nicht auf fruchtbaren Boden? Warum und wie gelang es den Bolschewiki, die Macht zu ergreifen und diese zu behaupten? Warum gingen sie als Sieger aus einem blutigen Bürgerkrieg hervor? Warum schlug die von ihnen 1921 eingeführte »Neue ökonomische Politik« der Verstaatlichung fehl? Und warum gelang es Stalin, sich nach Lenins Tod im Jahr 1924 im innerparteilichen Machtkampf der Kommunistischen Partei durchzusetzen?

Basierend auf bislang unveröffentlichten Zeugnissen aus russischen Archiven und aktuellen wissenschaftlichen Studien gibt der Autor Antworten auf diese Fragen. Mit großer erzählerischer Kraft und analytischem Sachverstand beleuchtet Smith die Auswirkung der Revolution auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im Zarenreich: Bauern, Arbeiter, Kirche, Militär, Adel, Frauen und Familie. Dabei versteht es der Autor, festgefügte Lehrmeinungen durch gewandelte Fragestellungen und neue methodische Zugriffe in neuem Lichte erscheinen zu lassen.

Smith erzählt Geschichte in bester angelsächsischer Tradition. Stilistische Brillanz und historischer Scharfsinn prägen seine Ausführungen, die dem Leser einen neuen Blick auf die russische Revolution und die von ihr eingeleitete Systemtransformation eröffnen.

Ein informatives, inspirierendes und daher sehr lesenswertes Buch, erschienen im Verlag Philipp von Zabern, WBG, Darmstadt 2017, 496 Seiten., 39,95 €. Der Rezensent Theodor Kissel ist promovierter Althistoriker, Sachbuchautor und Wissenschaftsjournalist; er lebt in der Nähe von Mainz.