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Letzte Aktualisierung: 23.04.2024

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Don Juan am Zarenhof?

Neue Rasputin-Biographie zieht viele Legenden in Zweifel

von Von Dr. Theodor Kissel (Sörgenloch)

(16.10.2017) Der Oxforder Historiker Douglas Smith räumt in seiner neuen Biographie über Rasputin auf mit den Legenden, die sich hartnäckig um die Person des schillernden Wanderpredigers ranken.

Neues von Rasputin. War er wirklich so ein schlimmer Finger?
Foto: Theiss Verlag
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Über keinen anderen russischen Bauernsohn ist mehr fabuliert worden als über den 1869 im westsibirischen Pokrowskoje geborenen Wanderprediger, der sich selbst »Starez«, Bettelmönch, nannte und als Sexguru, Wunderheiler und Intimus der Zarenfamilie in die Geschichte einging. Wie aus diesem frommen Landstreicher einer der einflussreichsten Männer Russlands werden konnte, der postum besungene »Lover oft he Russian Queen« (Boney M.) – das gilt als einer der populärsten Mythen des 20. Jahrhunderts.

Auch hundert Jahre nach seiner Ermordung im Dezember 2016 gilt Rasputin noch immer als Inkarnation des Bösen. Zahlreiche Biographien, Romane und Filme haben seinen mysteriösen Aufstieg zur Macht als Beichtvater und Berater der abergläubischen Zarenfamilie und Schutzengel des an der Bluterkrankheit leidenden Zarewitsch nachgezeichnet. Seine Ausschweifungen und sein unheimlicher politischer Einfluss sind der Stoff für Legenden.

Doch war er wirklich ein liederlicher Trunkenbold und die Unzucht in Person, wie seine Name (rasputstwo bedeutet auf Russisch: »Unzucht«) besagt? War er ein strenggläubiger orthodoxer Christ oder nur ein falscher Heiliger? Sind die Geschichten über seinen übersteigerten Sexualtrieb (»Russia’s greatest love machine«, Boney M.), sein ausschweifendes Leben und Sauforgien wahr oder einfach nur ein Mythos? Wie lernte er Zar und Zarin kennen und konnte so großen Einfluss auf sie ausüben? Was war die Quelle seiner Heilkraft? Übernahm Rasputin in den letzten Jahren seines Lebens die Regierung? Und wenn ja, agierte er aus eigenem Antrieb oder auf Befehl anderer, verborgener Mächte? Handelten Prinz Jusupov und seine Mitverschwörer alleine oder waren andere Parteien, wie Agenten des britischen Geheimdienstes oder gar eine Untergrundzelle der Freimaurer, an der Ermordung Rasputins beteiligt, wie verschiedentlich angenommen? Und inwieweit beschleunigten Rasputins Mörder den Untergang des Hauses Romanow?

Basierend auf bislang unveröffentlichten Zeugnissen aus russischen Archiven und aktuellen wissenschaftlichen Studien gibt Douglas Smith Antworten auf diese Fragen. Mit großer erzählerischer Kraft und analytischem Sachverstand räumt der Oxforder Historiker mit vielen Mythen auf, die sich um seinen Protagonisten ranken. Immer wieder lässt er in seiner voluminösen Biographie erkennen, dass fast alles, was man über den hypnotisierenden, wild dreinblickenden und sexbesessenen »verrückten Mönch« zu wissen meint, auf Gerüchten, Hörensagen und reinen Erfindungen seiner Gegner beruht.

Smith erzählt Geschichte in bester angelsächsischer Tradition. Einfühlsam in ihrem menschlichen Porträt, scharfsinnig in ihrer politischen Analyse, brillant erforscht und angereichert mit der aberwitzigen Besetzung aus degenerierten Popen, Huren, Quacksalbern, Abenteurerinnen, Mystikern, Mördern und einem weitgehend überforderten und inkompetenten Zaren in Gestalt von Nikolaus II. hat Smith eine fesselnde Darstellung über Grigorij Rasputin vorgelegt, dessen Ende gleichzeitig das Finale des Zarenreiches einläutete.

Das Buch, Biographie und Milieustudie einer zum Untergang geweihten Dynastie zugleich, ist flott und flüssig geschrieben, ohne akademischen Jargon und Holpersätze – und deshalb für jeden, der sich auf die Materie einlassen will, eine bereichernde Lektüre.

(Douglas Smith: Und die Erde wird zittern. Rasputin und das Ende der Romanows. Theiss Verlag, Darmstadt 2017, 896 S., 38,00 €)