Das Online-Gesellschaftsmagazin aus Frankfurt am Main

Letzte Aktualisierung: 24.04.2024

Werbung
Werbung

Die Karten lügen nicht

Carmen-Premiere auf der Seebühne in Bregenz

von Karl-Heinz Stier und Ingeborg Fischer

(27.07.2017) Alle zwei Jahre wachsen in Bregenz spektakuläre Kulissen aus dem Bodensee: ein gigantischer Bistro-Tisch („La Bohème“), die chinesische Mauer, in die zu Beginn der Aufführung eine Lücke gerissen wird („Turandot“), ein riesiges Drachen-Trio („Die Zauberflöte“) – zwar schon vergangen, aber immer noch außerordentlich beeindruckend! Dieses Mal steht „Carmen“ von Georges Bizet auf dem Programm der 72. Festspiele. Die britische Künstlerin Es Devlin hat zu der Oper um Leidenschaft, Stierkampf, Zigeunerromantik, Verhängnis und Tod ein Bühnenbild in See gesetzt, das vom Thema her verblüffend ist und alles Bisherige übertrifft.

Bildergalerie
Bühnenbild bei Beginn der Oper Carmen (Karten sind noch verdeckt)
Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster
***
Über 6 Monate dauerte der Kulissenaufbau auf der Seebühne über und unter dem Wasser
Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster
***
Die Karten mit Motivwechsel ab 3. Akt
Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster
***
Gaélle Argues, die Carmen-Hauptdarstellerin, bei ihrer weltbekannt und einfühlsamen Arie "Habanera"
Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster
***
Plakat der Carmen-Aufführung mit Hinweis auf die 28 Aufführungen
Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster
***

Zwei riesige Frauenhände mit rot lackierten Fingernägeln ragen links und rechts von der Seebühne aus dem Wasser, die linke Hand hält eine glimmende Zigarette, an der rechten glänzt ein Ring. Und die Hände scheinen überdimensionale Spielkarten zu mischen, die über dem Kulissen-Geschehen schweben. Warum die Karten das Bühnenbild bestimmen, findet sich im dritten Akt der Oper: Carmen und ihre zwei Freundinnen wollen ihre Zukunft deuten. Für Carmen sagen die Karten stets den Tod voraus. Dass gerade diese schicksalhafte Szene die Bühnenbildnerin Es Devlin und der dänische Regisseur Kaspar Holten als Idee für die Kulisse aufnahmen, ist das Ungewöhnliche. Denkt man doch zunächst bei „Carmen“ an eine Mantilla, einen Fächer, Kastagnetten.

Den ganzen letzten Winter über haben Stahl- und Hafenbauer über und unter Wasser am Bühnenaufbau gearbeitet und die überdimensionalen Hände sowie 59 Spielkarten in Montagezelten gefertigt, per LKW und Schiff zur Bühne geliefert und in die Oper-Welt gesetzt. 17 Meter ragt der rechte Unterarm mit der Hand aus dem Wasser und wiegt 20 Tonnen. Auf der anderen Seite sind es 20 Meter und 24 Tonnen. Die Karten – wie in die Luft geworfen – scheinen sich für das Publikum permanent zu bewegen. Aber bis auf eine Ausnahme sind sie fest montiert. Gelungen ist das Karten-Wechselspiel durch eine faszinierende optische Video-Projektion.

Die Zigarette glimmt in den Nachthimmel. Rauch ringelt sich in die Luft.
Die Karten als Schicksalsdeutung zeigen zunächst nur die Rückseite, ändern sich aber dann in jeder Szene, scheinen sich zu drehen, zeigen Herzdame und Herzkönig, verwandeln sich in Pik-König und Kreuz-Bube. Dann lösen sich die Bilder auf. Um die Arena am Schluss anzudeuten, ist plötzlich ein Torero auf allen Karten zu sehen. Und dann grinst ein Totengerippe herunter. Das Schicksal holt die stolze Carmen ein.

Bizet erzählt in seiner tragischen Oper die Geschichte von der leidenschaftlichen Zigeunerin Carmen, die frei sein will – auch in der Liebe – alle Männer betört und den braven Soldaten Don José aus seiner geordneten Welt lockt, um ihn dann wegen des stolzen Torero Escamillo zu verlassen. Diese Frauengestalt – wild, erotisch, lockend - wurde am Premieren-Abend von der französischen Sängerin Gaélle Arquez meist derart zwingend, gesanglich wie mimisch, gestaltet, dass es die beiden anderen „Carmen“, die bei den Festspielen wechselweise auch die Hauptrolle singen, schwer haben werden, an eine solche Leistung heranzukommen. Arquez war eine Titelfigur, die den Atem stocken ließ. Ihre Habanera knisterte nur so vor Leidenschaft und Passion. 

Dass auf einer Seebühne das Wasser eine Rolle spielen soll, erwartet man als geneigter Besucher der Festspiele. Carmen, die wegen einer Messerstecherei in der Tabakfabrik von den Soldaten verhaftet und von dem betörten Don José bewacht wird, entkommt durch einen beherzten Sprung in den kalten See und schwimmt davon. Die Schmuggler, die eigentlich bei Sevilla in den Bergen zugange sind, kamen in Bregenz folgerichtig mit Booten und luden ihr Schmuggelgut ab und um. Dass in Lillas Pastias Bar die Freudenmädchen und ein wildes Volk einen ekstatischen Tanz im seichten Uferwasser hinlegten, dass es nur so spritzte, war immerhin von der Choreographie her aufreizend. In der Schluss-Szene dann hätten wir uns die Carmen wilder, spöttischer, stolzer gewünscht, wenn sie ihrem Tod ins Auge blickt. Aber dass Don José die arme Carmen unter der jubelnden Musik vor der Stierkampfarena  im Bodensee ersäuft, war gewöhnungsbedürftig. Wenn man es richtig mitbekommen hat, war hier auch keine Stuntfrau eingesetzt, die es Gaélle Arquez erspart hätte, in das Seewasser gedrückt zu werden.

Aber Bregenz ist ja immer anders als die Opernbühnen, die man gewohnt ist. Und am Premierenabend wurde auch Musik und Gesangkunst der anderen Protagonisten auf gutem Niveau geboten. Elena Tsallagova als Micaéla (das brave Mädchen, das Don José die Grüße seiner sterbenden Mutter bringt und ihn liebt) sang eine fehlerlose, empfindsame Partie. Daniel Johansson als Don José meisterte seine Tenor-Gesangs-Rolle zufriedenstellend. Nur – man möge es uns nachsehen: Scott Hendricks als Escamillo enttäuschte. Gesanglich und auch im Auftreten war der Torero-Held wenig überzeugend. Dass die Aufführung trotz der widrigen Wetterumstände am Premierenabend ein Erlebnis war, ist dem Chor und den Sängerinnen und Sängern in den anderen Rollen mit zu verdanken. Ganz besonders sind jedoch die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Paolo Carignani hervorzuheben. Vom Festspielhaus aus begleiteten sie die Sänger einfühlsam, aber mit dem nötigen Tempo, so dass die technische Übertragung nicht zu spüren und die Harmonie zwischen Musik und menschlichen Stimmen Freude machte.

In insgesamt 28 Vorstellungen wird Bizets „Carmen“, das bekannte Opernwerk mit seinen zündenden Melodien, aufgeführt werden. Die letzte ist für den 20. August terminiert. Nach Auskunft der Festspielleitung sind bereits alle Aufführungen ausverkauft. 200000 Besucher werden bis dahin die Oper gesehen haben, 62 Prozent kommen allein aus Deutschland.

Bereits in den Spieljahren 1991/92 war das Stück ein durchschlagender Erfolg und sorgte für einen Besucher-Rekord. Wer bisher beim Kartenverkauf leer ausging, wird auf das kommende Jahr 2018 vertröstet, wenn Carmen, Don José, Escamillo und Micaela wieder vor beeindruckender Kulisse von Liebe, Leidenschaft und Verrat singen werden.

Für uns Autoren waren die Premieren von „Turandot“ und „Carmen“ zwar verregnet. Das ändert aber nichts daran, dass wir diesen Nachteil mit vielen der 7000 Besuchern angesichts der überraschenden Interpretation von „Carmen“, gepaart mit außergewöhnlicher Technik und einer ganz besonderen Atmosphäre, leicht verschmerzten.