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Letzte Aktualisierung: 24.04.2024

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Das 20. Jahrhundert aus der Makroperspektive

Eine andere Geschichte der vergangenen hundert Jahre

von Norbert Dörholt

Das 21. Jahrhundert ist erst wenige Jahre alt, da konfrontiert uns Edgar Wolfrum, Zeithistoriker an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, mit dem vergangenen. Sein Buch »Welt im Zwiespalt« ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die von Hegel vertretene Ansicht, dass die Geschichte uns nur das eine lehre, dass die Menschen aus ihr nichts lernten, und dass es besser sei, uns vom Ballast der Vergangenheit freizumachen.



„Welt im Zwiespalt“ handelt von Krieg und Frieden, Unrecht und Gutem, Diktatur und Demokratie – ein Buch, das nachdenklich stimmt.
Foto: Verlag
***


Zwar ist Geschichte immer einmalig, und sie wiederholt sich nicht, aber der Rückblick kann klüger für gegenwärtige Situationen machen, auch wenn man Handlungsanleitungen nicht eins zu eins ableiten kann. Deshalb ist Wolfrums beeindruckendes Geschichtspanorama ein Muss für alle, die das 20. Jahrhundert und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts verstehen wollen. Das 20. Jahrhundert in all seiner Zerrissenheit zwischen Fortschritt und Abgrund gilt als das außergewöhnlichste Säkulum der Weltgeschichte. Niemals zuvor erlebte die Menschheit so viel Leid, aber auch so viel Gutes: Im 20. Jahrhundert fanden zwei mörderische Weltkriege statt, aber auch noch nie zuvor erreichter technischer und sozialer Fortschritt.

Das 21. Jahrhundert ist erst wenige Jahre alt, da konfrontiert uns Edgar Wolfrum, Zeithistoriker an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, mit dem vergangenen. Sein Buch »Welt im Zwiespalt« ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die von Hegel vertretene Ansicht, dass die Geschichte uns nur das eine lehre, dass die Menschen aus ihr nichts lernten, und dass es besser sei, uns vom Ballast der Vergangenheit freizumachen.


„Welt im Zwiespalt“ handelt von Krieg und Frieden, Unrecht und Gutem, Diktatur und Demokratie – ein Buch, das nachdenklich stimmt.
Foto: Verlag
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Zwar ist Geschichte immer einmalig, und sie wiederholt sich nicht, aber der Rückblick kann klüger für gegenwärtige Situationen machen, auch wenn man Handlungsanleitungen nicht eins zu eins ableiten kann. Deshalb ist Wolfrums beeindruckendes Geschichtspanorama ein Muss für alle, die das 20. Jahrhundert und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts verstehen wollen. Das 20. Jahrhundert in all seiner Zerrissenheit zwischen Fortschritt und Abgrund gilt als das außergewöhnlichste Säkulum der Weltgeschichte. Niemals zuvor erlebte die Menschheit so viel Leid, aber auch so viel Gutes: Im 20. Jahrhundert fanden zwei mörderische Weltkriege statt, aber auch noch nie zuvor erreichter technischer und sozialer Fortschritt.

Wolfrum erzählt das 20. Jahrhundert, von seiner »Urkatastrophe«, dem Ersten Weltkrieg, bis zu den Terroranschlägen des 11. September 2001, in vier Teilen. Der erste Teil »Die Väter und Mütter aller Dinge« nimmt Bezug auf das berühmte Zitat des vorsokratischen Philosophen Heraklit, wonach der Krieg der Vater aller Dinge sei, und untersucht den Komplex von Macht und Herrschaft. Zentrale Signaturen des 20. Jahrhunderts kommen zur Sprache: Krieg und Frieden, Demokratie und Diktatur sowie das Wechselspiel von starken Staaten und zerfallenden Staaten.

Der zweite Teil »In den Dramen des Lebens« handelt von den großen Tragödien shakespeareschen Ausmaßes. Diskutiert werden die Beherrschung der Natur und die Umweltzerstörung sowie unter der Überschrift »Impfung und Aids« medizinische Fortschritte, die den Sieg über heimtückische Krankheiten brachten. Anschließend richtet der Autor den Fokus auf das größte Verderben, den Vertreibungen und den Genoziden, die das Jahrhundert in die absolute Dunkelheit führten.

Der dritte Teil »Vom Wahren, Schönen, Guten« nimmt die Kultur in den Blick, erläutert die gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen der künstlerischen Avantgarde, aber auch die Repressionen, denen sie staatlicherseits ausgesetzt waren. Vergleichbares lässt sich auch über das Kapitel »Liebesglück und Geschlechterungleichheit« sagen, wo einerseits die Frauenemanzipation und andererseits fortbestehende Unterdrückung behandelt werden. Ein anderer Aspekt gilt dem Thema Bildung/Wissen und deren Kehrseite, dem Analphabetismus, ein Gegensatzpaar, das laut Wolfrum, das gesamte 20. Jahrhundert durchzog.

Im vierten und letzten Teil des Buches, »Die Ökonomie als Schicksal«, der sich auf einen Ausspruch von Walther Rathenau bezieht, werden auf der einen Seite das erstaunliche Wirtschaftswachstum und die fortschreitende Verelendung auf der anderen Seite dargestellt. Vor dem Hintergrund eines explosiven Wachstums der Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert (von anfänglich einer Milliarde hin zu sieen Milliarden) legt Wolfrum sehr nachdrücklich das himmelschreiende soziale Gefälle zwischen einer Wohlstandsgesellschaft in den Industrieländern und den unterentwickelten Ländern auf unserem Planeten dar. Eine ungleiche Entwicklung, deren Ursache unter anderem auch darin begründet lag, dass etliche technologische Innovationen an vielen Regionen der Welt vollkommen vorbeigingen, wie der Autor sehr anschaulich im Kapitel »Holzpflug und Mikrochips« erzählt.

Wolfrums Buch über die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist eine thematisch breit gefächerte Darstellung, die die extremen Gegensätze dieses Säkulums aus verschiedenen Sichtweisen in globaler Perspektive erzählt. Zwar bietet der Autor für den Kenner der Materie nichts Neues, doch wie er politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen miteinander verknüpft und in seine gut recherchierte Reise durch das 20. Jahrhundert einfließen lässt, verdient großen Respekt.

Wenn der Untertitel des Buches »Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts« seine Berechtigung hat, dann liegt es vor allem an der stringenten Durchdringung des Stoffes und der souveränen Art und Weise, wie der Autor den Untersuchungszeitraum multiperspektivisch einfängt und zu einem großen Panorama verdichtet.

Edgar Wolfrum: Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Klett-Cotta Stuttgart 2017, 447 Seiten, 25 Euro, ISBN 3608943064


von Theodor Kissel