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Letzte Aktualisierung: 25.04.2024

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Brüder Grimm Festspiele in Hanau eröffnet

Musical über die Brüder Grimm entführt begeistertes Publikum in zwei Welten

von Britta Hoffmann-Mumme

(13.05.2019) Diese Produktion war mit besonderer Spannung erwartet worden: Ein eigenes Musical über die Brüder Grimm sollte die diesjährige Saison der 35. Brüder Grimm Festspiele in Hanau eröffnen und das am besten gleich mit einem richtigen Paukenschlag. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Plan ging auf!

Hexe Tredecima beklagt den Untergang der Märchenwelt
Foto: Brüder Grimm Festspiele / Hendrik Nix
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Als der letzte Ton gerade verklungen war, sprangen die ersten Zuschauer bereits zu einem frenetischen Applaus auf und feierten das Ensemble minutenlag mit stehenden Ovationen. Punktlandung.

Die Eröffnung der neuen Festspielsaison durch Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky, Intendant Frank-Lorenz Engel und Hanaus „Märchenbotschafterin Marie-Luise Marjan („Mutter Beimer“ aus der Lindenstraße) brachte das erhoffte, kollektive „Aha“-Erlebnis: Zweieinhalb Stunden beste Unterhaltung, musikalisch, darstellerisch, sprachlich und bühnentechnisch auf höchstem Niveau. Ein Wagnis, die Brüder Grimm und das Publikum gleichermaßen zwischen den Welten hin und her zu jagen, mit Figuren aus bekannten Märchen und älteren Märchenfassungen, mit schrillen Elementen und beklemmenden Momenten. Und ja, zum Ende der zweiten Hälfte muss der Zuschauer schon höllisch aufpassen, um sich im Märchenwald nicht zu verirren, aber das Experiment, Jacob und Wilhelm in den Mittelpunkt einer Geschichte zu stellen, ist gelungen. Diese Geschichte berührt dabei zwar am Rand das Leben und Wirken der beiden, skizziert die Schwierigkeiten, die die Brüder hatten, ihre Idee des Märchensammelns salonfähig zu machen, ist aber bewusst keine biografische Abhandlung (Engel: „Kein Wikipedia“), sondern unterhaltsam und facettenreich.

Die Handlung, sehr grob erzählt: Nach einem handfesten Streit über den Umgang mit Sprache und Wissenschaft verlässt Jacob wütend das Haus und sticht sich versehentlich an einer Zauberspindel. Dieser folgenschwere Pieks katapultiert ihn in die Märchenwelt, in der auch nicht mehr alles ist wie früher. Märchen verschwinden, Figuren verändern sich, es herrscht Unruhe. Die Hexe Tredecima will Jacob vernichten, doch er wird vom Kuss der zauberhaften Fee Thalia gerettet und kann in die Menschenwelt zurück kehren – Tredecima aber folgt ihm, trifft auf echte Menschen und versucht, auch hier Unheil anzurichten. Wilhelm will seinen Bruder retten, lässt sich seinerseits in die Märchenwelt schicken und zieht sich den Unmut der dortigen Bewohner zu, die befürchten, die Grimms seien mit ihrer Geschichtensammlung verantwortlich für das Verschwinden der Märchen. Am Ende kann nur das helfen, was im Märchen fast immer der Ausweg ist: Wahre Liebe.

Doch zu dem, was das Stück auf der Bühne und kreativ ausmacht: Zum Auftakt nehmen Autor Kevin Schroeder und Regisseur Jan Radermacher den Zuschauer mit in die Studentenbude der Brüder Grimm – eine Männer-WG, wie man sie sich eben so vorstellt mit unzähligen Büchern, dem Hang zum Unaufgeräumten und keinerlei weiblicher Dekoration. Genial: Bühnenbild und Requisite kommen hier praktisch ohne Farbe und vor allem ohne „echte“ Möbel aus. Alles ist in der Art moderner Schwarz-Weiß-Comics angelegt, mit Schraffuren und Schatten, ohne Schischi oder verspielte Details. Was Bett, Tisch oder Sessel darstellen soll, ist mit Kisten in verschiedenen Größen gelöst. Erst nach einer Weile aber fällt dem Betrachter dieser Kunstgriff auf, da er eben auch in der Farbe der Kostüme und Requisiten sowie beim Bühnenhintergrund (stilisierte Bäume mit Märchensfragmenten) konsequent beibehalten ist. Genial eben.

Jacob (Jonas Hein) und Wilhelm (Peter Lewys-Preston) gelten gemeinhin als seltsam, vor allem aber sind sie im Wesen total unterschiedlich. Zwar arbeiten sie gemeinsam an sprachwissenschaftlichen Forschungen und träumen davon, das Sammeln von Märchen als Fachrichtung etablieren zu können, aber während Wilhelm mit unbekümmerter Phantasie an alles herangeht, fällt Jacob die Rolle des humorbefreiten Erbsenzählers in der Familie zu. Beide Künstler, die auch im Gesang brillieren, füllen ihre Rollen hundertprozentig aus und schaffen es durchgehend, den schwelenden Geschwisterkonflikt, den erbitterten Streit auf der einen und die bedingungslose Bruderliebe auf der anderen Seite darzustellen.

An ihrer Seite Figuren, die auch im richtigen Leben der Grimms eine Rolle spielten: Marie Hassenpflug (Janne Marie Peters) und Dortchen Wild (Laura Pfister) – beide bewahren und erzählen Märchen und „beliefern“ Jacob und Wilhelm für ihre Sammlung. Beide sind aber auch gefangen in den Rollen, die die damalige Gesellschaft ihnen zugedacht hatte, nämlich keine höhere Bildung zu erlangen, sondern zu heiraten und für Mann und Familie da zu sein (Wunderschönes Duett „Was soll ich sagen?“).

Der erste Teil der Inszenierung spielt in der Welt der Grimms, die Wandlungsfähigkeit der Szenerie verdanken die Beteiligten Bühnenbildner Tobias Schunk, der erstmals mit zwei Drehelementen arbeitet. Höhepunkt dieser Konstruktion: Jacob Grimms Solo nach dem großen Krach mit seinem Bruder, bei dem er auf den verschiedenen Elementen umherläuft, mühelos die Ebenen wechselt und dazu auch noch wunderbar singt.

Danach kommt der Wechsel in die Märchenwelt: Bunter Bühnenhintergrund, bunte Figuren. Hier ist nichts gediegen-graumäusig, hier darf es schrill sein. Und das ist es auch: Die Märchenfiguren sind bekannt, aber irgendwie auch nicht. Rotkäppchens Wolf hat sich dem Vegetarismus zugewandt, der Froschkönig lernt in der Therapie „den inneren Frosch zuzulassen“. Alle reden mit Unterstützung einer Art eigener Gebärdensprache, an die sich der Zuschauer zunächst gewöhnen muss – Jacob Grimm auch, der sich unversehens in diesem Reich wiederfindet und von der bezaubernden Thalia (Maria Danae Bansen) in die Regeln der Märchenwelt eingeführt wird. Starkes Ohrwurmpotenzial: „Augen auf!“

Ihr Gegenpart und alles andere als bezaubernd: Tredecima, die Hexe. Darstellerin Carolin Fortenbacher wird mit Hilfe von Maskenbildnerin Wiebke Quenzel in ein haarloses, pockennarbiges Scheusal verwandelt und spielt diese Rolle einfach brilliant. In ihrem ersten Lied, das ein bisschen Ragtime, viel dreckigen Blues und einen ordentlichen Schuss Nina Hagen vereint, beklagt die Stimmgewaltige mit den vielen Facetten den Untergang der guten alten Märchen. Die neue Zeit, vegetarische Wölfe und zufriedene Ilsebills sind ihr zuwider, sie wünscht sich „mehr Dreck und Krawall, mehr Lust und mehr Gier“ und plädiert: „Macht Märchen wieder mächtig“.

Spannend: Diese Hexe ist nicht einfach nur gruselig, sondern eigentlich eine ängstliche Verzweifelte. Sie fürchtet sich, weil sie ihre bekannte Märchenwelt nicht mehr kennt und, wie im richtigen Leben, schiebt sie die Schuld dafür einem Fremden in die Schuhe, dem Märchensammler Grimm. Nach viel Hin und Her, Sprüngen zwischen grau und bunt und rasanter Handlung sorgt eine sehr still angelegte Szene für nachdenkliche Ruhe im Stück: Jacob und Wilhelm, jeweils in ihrer Welt, singen ihr Duett über Bruderliebe. Anrührend, mit Gänsehautfaktor und Ohrwurmqualität - und einfach schön. Am Ende sind zwar alle gerettet, aber eine Besonderheit hat das Hanauer Musical: Nicht alle dürfen ihre große Liebe im Arm halten. Jacob muss Thalia in der Märchenwelt lassen und sich mit bittersüßen Erinnerungen begnügen.

Die „Weltenwandler“ überzeugen, und zwar mit einem Gesamtpaket an großartigen Leistungen: Tanz, Gesang, Handlung, Komposition, Texte, Live-Musik (an der Premiere mit dem spontan als Ersatz eingesprungenen Markus Syperek), Bühne, Kostüme, Maske. Und sie kommen ohne erhobenen Moralzeigefinger aus und setzen lieber auf allerbeste Unterhaltung. Herz, was willst Du mehr?

Hintergrund: Mit den Brüder Grimm Festspielen ehrt die Stadt Hanau die deutschen Märchensammler und Sprachforscher Jacob und Wilhelm Grimm, die in Hanau geboren wurden. Jedes Jahr locken die preisgekrönten Festspiele rund 80.000 Besucher an. In diesem Jahr finden die 35. Festspiele mit den Stücken „Jacob und Wilhelm - Weltenwandler“ (Musical/Premiere am 10. Mai), „Bremer Stadtmusikanten“ (Familienstück/Premiere am 1. Juni), „Schneewittchen“ (Theater mit Gesang/Premiere am 8.Juni) sowie „Maria Stuart“ (Reihe Grimm Zeitgenossen/Premiere am 18. Mai) und „Die Leiden des Jungen Werther“ (Reihe Junge Talente/Premiere am 19. Juli) vom 11. Mai bis 29. Juli 2018 statt.

Weitere Informationen über die Brüder Grimm Festspiele gibt es unter www.festspiele.hanau.de im Internet. Tickets gibt es an allen bekannten Vorverkaufsstellen sowie im Internet unter www.frankfurt-ticket.de oder auch unter der Telefonnummer (069)1340400.