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Letzte Aktualisierung: 25.04.2024

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Auf der Suche nach dem Ur-Arier

„Nazis in Tibet“ von Peter Meier-Hüsing erzählt von einer skurrilen NS-Expedition

von Dr. Theodor Kissel

(28.03.2017) Wer geglaubt hat, über die Nationalsozialisten und deren Verbrechen sei inzwischen alles gesagt, der sieht sich nach der Lektüre von Peter Meier-Hüsings Buch »Nazis in Tibet« eines Besseren belehrt.

Sieben Nazis auf kruden Pfaden
Foto: Theiss Verlag
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Was schwer nach einem Indiana-Jones-Plot klingt, gab es wirklich: ein SS-Kommando mit Geheimauftrag im Himalaja. Mit großer erzählerischer Kraft und analytischem Sachverstand beleuchtet der für den Hörfunk Radio Bremen arbeitende Journalist und Buchautor Hintergründe, Verlauf und Ergebnisse dieser abenteuerlichen Expedition und räumt dabei mit vielen Vorurteilen und Halbwahrheiten auf.

Im Eingangskapitel »Arier-Tümelei« beschreibt der Autor das krude ideologische Fundament des „Reichsführers-SS“ und dessen geistige Verwurzelung in der Thule Gesellschaft, jener ideologischen Keimzelle der NSDAP, deren Mitglieder sich germanisch-okkulten Schwärmereien ebenso verschrieben hatten wie radikaler rassistischer Politik. Himmlers völkisch-esoterische Obsessionen kreisen um die absurde Vorstellung, dass sich im Himalaja überlebende Arier einer untergegangenen, prä-antiken Zivilisation aus Atlantis über die Jahrtausende gerettet hätten. Als Indiz für diese wirre Theorie musste das Hakenkreuzsymbol herhalten, im tibetanischen Kulturkreis seit Jahrtausenden ein Glückssymbol.

Im Kapitel »Vorberge – ein faustischer Pakt« werden die Verbindungen zwischen Politik und Wissenschaft dargestellt und aufgezeigt, wie sich gerade die Naturwissenschaften in den Dienst der neuen Bewegung stellten. Schon 1935 hatte Himmler die Organisation »Ahnenerbe« ins Leben gerufen, eine obskure pseudowissenschaftliche Organisation, die wissenschaftliche Beweise für Ursprünge und Überlegenheit der arischen Rasse sammeln sollte. Das »Ahnenerbe« wurde schnell zur Spielwiese für SS-Akademiker, wie beispielsweise den Untersturmführer, Zoologen und Ornithologen Ernst Schäfer, der sich bereits durch seine Teilnahme an zwei an amerikanischen Tibet-Expeditionen einen Namen als Tibet-Experte gemacht hatte und als Expeditionsleiter für Himmlers Unternehmen Himalaja gewonnen wurde.

Im Kapitel »Das Treffen von westlichem und östlichem Hakenkreuz« werden Verlauf und Wirken der Expeditionsteilnehmer geschildert. In der heiligen Stadt Lhasa, Tibets religiösem Zentrum und Sitz des Dalai Lama, und der näheren Umgebung sammelten die Expeditionsmitglieder grundlegendes Material zur tibetischen Bevölkerung, trugen Nutzpflanzen zusammen und stellten – auf der Suche nach Ariern – anthropometrische Untersuchungen an den Einheimischen an. Hierzu wurden Schädel vermessen, Gesichtsmasken aus Gips angefertigt und Körperproportionen gezeichnet. Dies alles dokumentierten die Tibet-Forscher mit spektakulären Filmaufnahmen.

Für Hitler-Deutschland war das Himalaja-Unternehmen ein großer Erfolg – und wurde dementsprechend propagandistisch ausgeschlachtet. Als die Heimkehrer im August 1939, wenige Tage vor Kriegsausbruch, auf dem Münchner Flughafen landeten, wurden die »Helden von Tibet« von Himmler persönlich empfangen. Im Januar 1943 wurde der Dokumentarfilm »Geheimnis Tibet«, den die SS-Expedition auf dem Dach der Welt gedreht hatte, im Münchner Ufa-Palast uraufgeführt, der an den deutschen Kinokassen bald zu einem echten Schlager avancierte. Für das NS-Regime war die Geschichte von den tollkühnen SS-Männern im fernen Tibet auf der Suche nach den arischen Urahnen der perfekte Propaganda-Coup, um an der Heimatfront Begeisterung für Eroberung im Osten wach zu halten.

Im Kapitel »Überlebensstrategien der ›Wikinger der Wissenschaft‹«, das sich dem Leben der Heimkehrer im Zweiten Weltkrieg widmet, beschreibt Meier-Hüsing, wie sich diese in den Jahren 1939 bis 1945 mit dem System arrangierten und in diesem Karriere machten: Schäfer als Abteilungsleiter des »Ahnenerbe« und Chef der neu gegründeten »Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen« in München, Bruno Beger ebendort als führender Anthropologe. Da die Tibet-Forschung aber nur noch ihre Existenzberechtigung behalten konnte, wenn sie kriegswichtigen Zielen diente, hatte ihr obersten Dienstherr Himmler für beide »willigen Helfer« noch besondere Aufgaben parat.

Nach kurzen Fronteinsätzen 1941 (Schäfer in der SS-Kampfgruppe Nord in Norwegen und Finnland, Beger als Kriegsberichterstatter in einer Kompanie der Waffen-SS) wurde Schäfer mit zwei kriegswichtigen Zuchtaufgaben beauftragt. Zum einen sollte er auf Wunsch von Ansiedlungsexperten der SS ertragreiche heimische Getreidesorten mit der widerstandsfähigen und schnell wachsenden tibetischen 60-Tage-Gerste kreuzen, um mit diesem »Wundergetreide« die Versorgungslage in den eroberten Ostgebieten nach einer Ansiedlung von »Reichsdeutschen« zu sichern. Zum anderen sollte sich Schäfer um eine widerstandsfähige Pferdesorte für den Krieg in Russland kümmern, die Futtermangel und wochenlangen strengen Frost ertragen konnte.

Ungleich teuflischer war der Auftrag, den der »Herr über den Schwarzen Orden« Bruno Beger zugedacht hatte. Der überzeugte Rassist sollte für Himmlers kruden Rassenwahn eine »anthropologische Skelettsammlung fremdrassiger Individuen« zusammenstellen. Zu diesem perversen Zweck reiste Beger 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz, ließ dort 150 Häftlinge selektieren, vermessen und ins KZ Natzweiler im Elsass bringen, wo die Deportierten in einer Gaskammer des knapp einen Kilometer entfernten Hotel Le Struthof getötet wurden, bevor sie anschließend ins anatomische Institut nach Straßburg gebracht wurden.

Von all dem wollte Beger nach den Krieg natürlich nichts wissen, wie der Autor im Kapitel »Nachkriegskarrieren – Verdrängen und uminterpretieren« erzählt. Berger wurde zunächst als »Entlastet« eingestuft, arbeitete dann in einem Schulbuchverlag in Oberursel und wurde erst 1970 vor dem Frankfurter Landgericht wegen Beihilfe zum Mord in 86 Fällen angeklagt. Dann aber mangels Beweisen nur zu einer gesetzlichen Mindeststrafe von drei Jahren auf Bewährung verurteilt. Schäfer wird als Mitläufer eingestuft und zu einer Geldstrafe von 2000 Mark verurteilt. Seine Strategie des Leugnens und des sich Nicht-Mehr-Erinnerns war aufgegangen. Doch Schäfer reichte das nicht. Da eine wissenschaftliche Tätigkeit für ihn nur mit dem Status »Entlastet« möglich ist, geht er in Berufung – und wird schließlich für »Entlastet« erklärt. Als Kustos für Zoologie am Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover (u.a. auch wegen eines positiven Gutachtens des Senckenberg-Instituts in Frankfurt) macht er Karriere im Nachkriegsdeutschland.

Wer Näheres über die Hintergründe der spektakulären Tibet-Expedition anno 1938/39 erfahren will, der ist mit dem spannend geschriebenen und äußerst informativen Buch von Meier-Hüsing bestens bedient.

Peter Meier-Hüsing: Nazis in Tibet. Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer, Theiss Verlag, Darmstadt 2017, 288 S., 24,95 €.

Der Rezensent Theodor Kissel ist promovierter Althistoriker, Sachbuchautor und Wissenschafts-Journalist; er lebt in der Nähe von Mainz.