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Letzte Aktualisierung: 19.04.2024

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„Sollten pfleglich mit unserem Erbe umgehen“

90 Jahre Heimatsiedlung: Symposium im Architekturmuseum beleuchtet die heutige Rolle von Großsiedlungen – Mieter-Mix wichtiger als die Baustruktur

von Ilse Romahn

(21.09.2017) „Wir müssen bauen, bauen, bauen. Nur so können die Menschen in Frankfurt bleiben.“ Als der Hausherr diese Worte sagte, kam noch einmal richtig Schwung in die rund 90-minütige Diskussion.

Hatten jede Menge zu besprechen: Prof. Ernst Ulrich Scheffler, Mike Josef, Holger Lack, Dr. Bernd Hunger, Peter Cachola Schmal und Kamiel Klaasen
Foto: UGNHA/Thomas Rohnke
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Peter Cachola Schmal, Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt/Main, sah sich nach seiner Äußerung einer Fülle von Gegenargumenten ausgesetzt. Dass Quantität bei der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum wichtiger ist als Qualität, sah der Rest des Podiums nämlich anders. Dort Platz genommen hatten neben Cachola Schmal Dr. Bernd Hunger, Vorstandsvorsitzender des Kompetenzzentrums Großsiedlungen, Mike Josef, Planungsdezernent der Stadt Frankfurt, Holger Lack, Leiter des Regionalcenters Frankfurt der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte/Wohnstadt und der Frankfurter Architekt Prof. Ernst Ulrich Scheffler. Moderiert hat die Diskussionsrunde, die Teil des Symposiums „Großsiedlungen heute – ein anderer Blick“ war, Dr. Matthias Alexander, Leiter des Regionalteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Eingeladen hatte die Nassauische Heimstätte anlässlich eines runden Geburtstags: Die Heimatsiedlung in Sachsenhausen, deren Eigentümer die Unternehmensgruppe ist, wird in diesem Jahr 90 Jahre alt. Rund 60 Besucher waren bei der Veranstaltung dabei.

Mit der Qualität steigt die Akzeptanz

Dass die Menschen einen gewissen Anspruch an die Wohnqualität haben, betonte Mike Josef. „Die Menschen wollen Grünflächen, öffentlichen Nahverkehr, Einkaufsmöglichkeiten, Schulen und Kindergärten in der Nähe ihrer Wohnung haben.“ Mit „Wohnqualität“ seien die eigenen vier Wände gemeint, aber auch das Umfeld, die Infrastruktur. Wenn sich beides qualitativ auf einem guten Niveau bewege, steige auch die Akzeptanz. „Die Qualität muss hoch sein, der Preis erträglich“, pflichtete ihm Hunger bei. „Es bringt nichts, irgendwelche schlichten Bauten hinzustellen, die nur schwer verwertbar sind.“

„Denkmalschutz ist nicht der natürliches Feind des Architekten“

Zu Beginn der Talkrunde erinnerte Scheffler an die Rolle des Neuen Frankfurt für die Baugeschichte des 20. Jahrhunderts. „Siedlungen wie die Römerstadt sind das Wertvollste, das wir haben“, sagte der Architekt. „Wir sollten pfleglich mit diesem Erbe umgehen und immer daran denken, dass der Denkmalschutz nicht der natürliche Feind des Architekten ist.“ Cachola Schmal gab Scheffler zwar Recht, dass diese Siedlungen ein Symbol für eine erfolgreiche Wohnungspolitik seien, an die man eigentlich anknüpfen müsste. Sie könnten aber nicht ohne weiteres in die heutige Zeit übertragen werden. Bernd Hunger warb dafür, auch auf die Siedlungen aus den 1960er und 1970er Jahren freundlich zu schauen und sie behutsam zu ergänzen. Einig war sich die Runde darin, dass die Sanierung von Großsiedlungen wie der Heimatsiedlung in Sachsenhausen eine große Herausforderung ist. Holger Lack von der Nassauischen Heimstätte verwies darauf, dass die Auflagen des Denkmalschutzes beachtet werden und die Mieter mitgenommen werden müssen. „Das ist oft nicht ganz einfach und erfordert mitunter viel Fingerspitzengefühl.“

Mieter-Mix wichtiger als die bauliche Struktur

In der Gegenwart, auch hier herrschte weitgehend Einigkeit, gehe es darum, die Bewohner einer Siedlung so auszuwählen, dass sie möglichst gut zueinander passen. „Das ist nicht leicht, aber sehr wichtig“, betonte Lack. Über die Jahre sei die Anonymität immer größer geworden, „die Menschen kümmern sich nicht mehr so sehr umeinander wie früher“. „Entscheidend ist die Zusammensetzung der Bevölkerung, nicht die bauliche Struktur“, pflichtete ihm Bernd Hunger bei. Selbst wenn der Mieter-Mix stimme, seien aber Angebote nötig, wie sie etwa durch das Sozialmanagement innerhalb eines Quartiers oder durch das Programm „Soziale Stadt“ geschaffen werden. Auch Mike Josef warb für „Flexibilität bei der Belegung, eine Vielfalt in der Vielfalt, was ja eine der Stärken Frankfurts ist“. Josef, Sohn syrischer Einwanderer, ist zusammen mit vielen anderen Immigranten in einer großen Wohnsiedlung in Ulm aufgewachsen. „Das Leben dort macht nicht krank, aber es gibt immer eine gewisse Stigmatisierung.“ Josef erinnerte sich daran, wie an seiner Bushaltestelle immer die Worte „Aussteigen auf eigene Gefahr“ in der Anzeige erschienen. „Ich bin behütet aufgewachsen, hatte eine gute Kindheit. Aber das war eben der Blick von außen.“ Es sei daher enorm wichtig, die Belegungsrechte so zu nutzen, dass in Häusern oder Arealen nicht vor allem eine bestimmte Gruppe von Menschen wohne. „Sonst können Parallelgesellschaften entstehen.“ Zugleich warnte Josef davor, die Chancen der Nachverdichtung zu überschätzen. Das Wohnungsproblem könne man nicht lösen, indem man alle Siedlungen um zwei Etagen aufstocke. Auch das Wohnhochhaus scheidet für ihn als Option für geförderten Wohnungsbau weitgehend aus. „Das funktioniert heute nicht mehr, da fehlt die Akzeptanz.“ Holger Lack von der NH sieht das anders. „Ich denke schon, dass das Wohnhochhaus auch heute noch für einen gesunden Mieter-Mix geeignet ist.“ Zum Thema Nachverdichtung hatte Scheffler ein Beispiel aus der Praxis parat. Bei einer Aufstockung in der Mörfelder Landstraße in Sachsenhausen habe zunächst eine eisige Stimmung bei den Bewohnern geherrscht. Beim Mieterfest nach der Fertigstellung sei die Atmosphäre hervorragend gewesen. „Entscheidend ist das Management auf der Baustelle. Und das ist uns in diesem Fall offenbar gut gelungen.“

Zeitreise durch die Geschichte der Großsiedlung

Vor der Talkrunde stimmten zwei Referenten die Gäste mit zwei halbstündigen Vorträgen auf die Debatten ein. Den Anfang machte – nach der Begrüßung durch Dr. Constantin Westphal, Geschäftsführer der Nassauischen Heimstätte, – Dr. Bernd Hunger. Der Vorstandsvorsitzende des Kompetenzzentrums Großsiedlungen sprach zum Thema „Die Großsiedlung: Ihre Geschichte und ihre Bedeutung heute“. Was er selbst als „Parforceritt“  bezeichnete, wurde zu einer kurzweiligen Zeitreise durch die Jahrzehnte. Ausgehend von den Siedlungen der Berliner Moderne wie die Hufeisensiedlung oder die Weiße Stadt, die als Reaktion auf die Folgen des Ersten Weltkriegs entstanden, schlug er den Bogen zu den 1950er und 1960er Jahren, als Themen wie aufgelockerte Stadtlandschaften und Einrichtungen für den Gemeinbedarf immer wichtiger wurden. Über die 1970er und 1980er Jahre, in denen Schlagworte wie „Urbanität durch Dichte“ eine große Rolle spielten, näherte er sich dem Hier und Heute. Am Beispiel einer Großsiedlung in Ingolstadt schilderte er, wie eine Sanierung gelingen kann beziehungsweise wie man  eine Großsiedlung architektonisch ansprechend bauen kann. Als Beispiele nannte er Freiham Nord und Nordhaide in München. Hunger machte keinen Hehl daraus, dass Großsiedlungen eine große Herausforderung sind – Stichwort: Imageprobleme, Stigmatisierung, Integrationsleistung – skizzierte aber auch die Chancen. „Sie brauchen eine gute Verkehrsanbindung, eine maßvolle Dichte, eine vernünftige Mischung, eine verträgliche Einbindung in die Natur und eine Vielfalt an Bauherren. Dann kann eine Großsiedlung auch heute noch funktionieren.“ Hunger zeigte sich überzeugt davon, dass Großsiedlungen in zwei oder drei Jahren „wieder ein wichtiges Thema sein werden“ und verwies darauf, dass Aspekte, die bereits im Berlin der 1920er Jahre eine Rolle spielten auch im dritten Jahrtausend von Bedeutung sind: „Licht, Luft und Sonne. Das wollten die Menschen damals. Und das wollen die Menschen auch heute.“

Vom heruntergekommenen Wohnkomplex zum Mies-Preisgewinner

Über eine ganz spezielle Großsiedlung sprach Kamil Klaasen von NL Architects, einem niederländischen Architektenbüro mit Sitz in Amsterdam. Er schilderte, wie „Kleiburg“, ein einst heruntergekommener Wohnkomplex aus den 1970er Jahren mit 500 Wohneinheiten im Amsterdamer Stadtteil Bijlmermeer, unter Beteiligung seines Büros dank eines ebenso innovativen wie unkonventionellen Sanierungskonzepts zu einem lebenswerten Quartier geworden ist und 2017 sogar den Mies-van-der-Rohe-Preis gewonnen hat. „Die zentrale Idee war, bezahlbaren Wohnraum nicht zur Miete, sondern als Eigentum anzubieten“, so Klaasen. Die Struktur wurde freigelegt und optimiert, die Wohnungen entkernt, auf den Markt gebracht und im Rohzustand für günstige 1.200 Euro/m2 verkauft.  Mit den Einnahmen wurden Parkdecks entfernt und die Erschließung durch neue großzügige Treppenhäuser verbessert, Aufzüge und Lagerräume in den Kernen eingebaut, die Fassaden renoviert und geschosshoch verglast. Wohnungsgrößen zwischen 50 und 150 Quadratmeter und die Freiheit bei der Grundrissgestaltung ermöglichen eine große Bandbreite an Möglichkeiten, von standardisierten Kleinzimmerwohnungen über Lofts bis zu Wohnbüros. Sogar eine zehnköpfige Klostergemeinde hat sich in der Mitte eines Laubenganges niedergelassen. Inzwischen sind alle Einheiten verkauft und die Renovierungen fast abgeschlossen. „Es war nicht vorhersehbar, wie dieses Projekt ankommt“, sagt Klaasen. „Aber es wurde ein unerwarteter Erfolg.“