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Letzte Aktualisierung: 25.04.2024

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„Hessen ist zu reich, um sich arme Kinder leisten zu können“

Neue Caritas-Broschüre „Armen eine Stimme geben“ flankiert Zweiten Hessischen Landessozialbericht

von Ilse Romahn

(08.12.2017) „Wenn ich manchmal die anderen Mütter in der KiTa sehe, die alle Autos haben und Männer, die gut verdienen (...) die können ihren Kindern was bieten und sich auch selbst was leisten. Manchmal glaube ich, das wird bei mir nie besser werden mit dem Geld und ob ich aus dem Hartz IV irgendwann rauskomme (…)“, klagt die 29-jährige Nora. (S. 264) Ungewohnte Töne im Zweiten Hessischen Landessozialbericht, den Sozialminister Stefan Grüttner in Wiesbaden vorgestellt hat.

Im Vergleich zu seinem Vorgänger ist der 326 Seiten starke Bericht mit dem Schwerpunkt Kinderarmut ein großer Fortschritt, der sich bereits äußerlich in einer Reduzierung um 185 Seiten zeigt. Noch erfreulicher ist die inhaltliche Entwicklung. Machte der erste Bericht durch seine unkommentierten Zahlenfriedhöfe Schlagzeilen, setzt die aktuelle Ausgabe auf Klasse statt Masse, steigt in die Ursachenforschung ein, entwickelt Handlungskonzepte und empfiehlt konkrete Maßnahmen.

Neu ist auch der Berichtsteil des Beirats. Einer der drei Beiträge stammt aus der gemeinsamen Feder der katholischen und evangelischen Kirche, der Liga der Freien Wohlfahrtspflege, des DGB, des VdK sowie der Ausländerbeiräte in Hessen. (S. 260-274) Alleinerziehende, Rentner in Altersarmut, Langzeitarbeitslose, Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund – Gruppen, die besonders von Armut und Ausgrenzung betroffen sind – werden gehört und kommen zu Wort. Dass diese Sicht der Betroffenen unerlässlich ist, zeigt auch die neue Publikation des Diözesancaritasverbandes „Den Armen eine Stimme geben“. Sie schildert die Probleme aus deren Perspektive und stellt Lösungsansätze aus der Praxis der Fachleute der Caritas im Bistum Limburg vor. Die Sicht der Betroffenen muss daher künftig ihren festen Platz in der Landessozialberichterstattung bekommen.

Der Landessozialbericht gewinnt durch die Mixtur aus wissenschaftlich fundierten Analysen, Handlungsempfehlungen sowie Zitaten von Menschen in Armutslagen an Authentizität. Über eine rein quantitative Betrachtung von Armut hinausgehend, nimmt der Bericht in den Blick, was Armut qualitativ ausmacht. Dabei sprechen die ausgewählten Lebenswirklichkeiten von Menschen in Armutslagen für sich, wie das Beispiel einer Familie, die um den monatlichen Zuschuss von 10 Euro für den Musikunterricht ihres Sohnes kämpft. (S. 266)

Die Handlungsempfehlungen werden durch sogenannte Sensitivitätsanalysen untermauert. Diese Charts zeigen, welche finanziellen Hebel Bund und Land ansetzen müssen, um Armut nachhaltig zu reduzieren. So hat die Erhöhung verschiedener Sozialleistungen unterschiedliche Effekte: Die Anhebung des Kindergeldes reduziert das Armutsrisiko spürbar, während eine Anhebung des Unterhaltsvorschusses eine deutlich geringere Auswirkung hat. (S.194-196)

Ein weiteres Novum sind die Zahlen zu den Reichen im Lande. (S. 55-59) Obgleich zur Reichtumsentwicklung nur rudimentäres Datenmaterial vorliegt, ist dies ein Schritt in die richtige Richtung, da Armut stets im Zusammenhang mit Reichtum gesehen werden muss.

Der Bericht macht aber auch deutlich, an was es in Hessen noch fehlt. Das ist vor allem die regionale Ausdifferenzierung des Datenmaterials. Wie verteilen sich die Lebenslagen in Nord- und Südhessen? In welchen Regionen ist die Bekämpfung von Armut am vordringlichsten? Wie muss die soziale Infrastruktur in Hessen beschaffen sein, um Unterversorgung zu kompensieren? Sozialräumliche Fragestellungen beantwortet der Bericht nur ansatzweise. Aber auch das Aufzeigen von Datenlücken kann Zeichen für den Aufbruch sein. 

Positiv zu bewerten ist, dass der Bericht im Anhang Projektskizzen zur Armutsprävention für Kinder in Hessen liefert. (S. 302-309) Von den DiaKids der Diakonie Hessen-Nassau über die Familienpaten des Caritasverbandes Hochtaunus bis zu den Sprach-KiTas des Caritasverbandes Wetzlar/Lahn-Dill-Eder bieten die Best Practices einen Blick auf die Vielfalt und Innovation der sozialen Projekte. Gleichzeitig macht die für ein Land wie Hessen mit 18 Projekten sehr überschaubare Liste deutlich, dass eine koordinierte Innovationsstrategie fehlt. „Hier ist ein sozialer Infrastrukturatlas für ganz Hessen notwendig“, fordert Manderscheid. 

Insgesamt liefert der Bericht eine gute Basis für die kontinuierliche Sozialberichterstattung, die das Land in Aussicht gestellt hat. „Hessen ist zu reich, um sich arme Kinder leisten zu können“, sagt Manderscheid. Die Ergebnisse des Berichtes sollten Anlass für die Politik sein, um konkrete sozialpolitische Maßnahmen zu initiieren und den Einfluss auf die Bundesregierung zu nutzen. „Die Landesregierung muss jetzt die Ärmel hochkrempeln, ihre Versprechen beispielsweise in Bezug auf eine Wohnungsnotfallstatistik einlösen und mit den Akteuren eine regelhafte Sozialberichterstattung initiieren. Das Angebot der kontinuierlichen Zusammenarbeit nehmen wir als Mitglied des Beirats gerne an und bieten unsere Unterstützung an, um Hessen zu einem Land zu gestalten, in dem Chancengleichheit und Teilhabe für alle Menschen gelebte Realität ist“, sagt Manderscheid.

Die Broschüre gibt es zum Download unter www.dicv-limburg.de/armut